Libyens Richterrat hebt Todesurteile auf

Höchststrafe für fünf bulgarische Krankenschwestern und einen palästinensischen Arzt wird in lebenslange Haft umgewandelt. Sofia bemüht sich um zügige Auslieferung der Betroffenen. Doch das kann dauern. Weitere Verfahren anhängig

Die Europäische Union hat die Entschädigung für die Opfer nicht gezahlt

VON BARBARA OERTEL

Die in Libyen zum Tode verurteilten fünf bulgarischen Krankenschwestern und der palästinensische Arzt müssen nicht mehr um ihr Leben fürchten. Am Dienstag hob der Oberste Richterrat in Tripolis die Todesurteile auf und verwandelte sie in lebenslange Haftstrafen.

Die fünf Schwestern und der palästinensische Arzt, der seit einem Monat die bulgarische Staatsangehörigkeit hat, sitzen seit Februar 1999 in Tripolis im Gefängnis. Sie waren beschuldigt worden, mehr als 400 Kinder in einem Krankenhaus in Bengasi absichtlich mit dem HI-Virus infiziert zu haben. 56 der infizierten Kinder sind gestorben. Im Mai 2004 wurden die Angeklagten zum Tode verurteilt. Im Dezember 2006 bestätigte ein Berufungsgericht den Schuldspruch. Und das, obwohl internationale Experten nachgewiesen hatten, dass sich die Kinder infiziert hätten, bevor die Beschuldigten ihre Tätigkeit im Krankenhaus aufgenommen hatten.

In der vergangenen Woche hatte der Oberste Gerichtshof die Todesurteile noch einmal bestätigt. Kurz vor der Entscheidung des Richterrates hatten die Angehörigen der an Aids erkrankten Kinder auf ihre Forderung nach Vollstreckung der Todesurteile verzichtet. Zuvor hatten sie erste Entschädigungszahlungen erhalten. Diese belaufen sich nach Angaben des Sohns des libyschen Staatschefs Muammar al-Gaddafi, Seif al-Islam, insgesamt auf 400 Millionen Dollar. Unklar ist, woher dieses Geld stammt. Die Mittel kämen größtenteils aus Libyen selbst, sagte EU-Außenkommissarin Benita Ferrero-Waldner gestern im bulgarischen Rundfunk. „Die EU hat diese Kompensationszahlungen nicht geleistet“, fügte sie hinzu.

„Die Hölle geht weiter“, titelte die bulgarische Tageszeitung Standard gestern und merkte an, dass das Leiden der Beschuldigten noch längst nicht zu Ende sei. Derzeit ist völlig unklar, wie lange die Schwestern und der Arzt noch in Libyen in Haft bleiben müssen. Am Mittwoch wandte sich der bulgarische Generalstaatsanwalt Boris Weltschew an Tripolis, um die Überstellung der Gefangenen nach Bulgarien zu erreichen. Grundlage ist ein entsprechendes Rechtsabkommen von 1984, das jedoch noch nie angewandt worden ist und keine genauen Fristen vorsieht. Die Regierung in Tripolis deutete mögliche Bedingungen für eine Auslieferung an. Dabei gehe es unter anderem um eine Ausbildung der mit dem HI-Virus infizierten Kinder im Ausland, berichtet der bulgarische Privatsender bTV.

Auch noch ein anderer Umstand könnte die Auslieferung verzögern. Derzeit sind in Libyen noch zwei Verfahren gegen die Krankenschwestern wegen Verleumdung anhängig. Bereits während des ersten Prozesses hatten die Beschuldigten ausgesagt, dass ihre Geständnisse unter Folter zustande gekommen seien. Daraufhin strengten ein Polizeioffizier und ein Arzt ein Verfahren wegen Verleumdung an, das im vergangenen Mai mit einem Freispruch der Schwestern endete. Am Mittwoch sollte eine weitere Verleumdungsklage vor Gericht verhandelt werden. Der Kläger, Selim Djuma, hatte seinerzeit zugegeben, die Schwestern gefoltert zu haben, dieses Geständnis aber später widerrufen.

„Für uns ist der Fall erst abgeschlossen, wenn die Krankenschwestern wieder auf bulgarischem Boden sind“, sagte Premier Sergej Stanischew in Sofia. Auch die EU scheint weiter Druck machen zu wollen. „Das Europäische Parlament wird nicht ruhen, bis wir die Krankenschwestern und den Arzt frei und mit ihren Familien vereint wissen“, sagte Parlamentspräsident Hans-Gert Pöttering. Dies könne zur Normalisierung der Beziehungen zwischen der EU und Libyen beitragen.

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