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: Ein bisschen wie Weihnachten

FUSSBALL Chancenlos, hieß es vor Herthas Heimspiel gegen Bayern München. Doch die Berliner zeigen, was in ihnen steckt

Kurz vor Weihnachten lässt sich selbst dem am Fußball desinteressierten Leser die ambivalente Gefühlswelt eines Fußballfans erklären. Zu Weihnachten hat sich die Familie angekündigt (oder man selbst reist zu ihr): die mittlerweile leicht wunderlichen Eltern, die Geschwister mit ihren vorlauten Kindern. Irgendwie freut man sich ja auf den Besuch, aufs Wiedersehen, aber – Oh, du fröhliche! – eben mit einem mulmigen Gefühl. Wie wird es wohl ausgehen?

So ähnlich verhielt sich das in den Tagen vor Herthas Heimspiel gegen den FC Bayern München am Samstag. Vorfreude, ja schon. Aber eben auch ein mulmiges Gefühl.

Die Vorfreude speiste sich vor allem aus der Hoffnung, womöglich einer seltenen Begebenheit beizuwohnen, in Fachkreisen spricht man dann von einer Sensation: ein Sieg über die in dieser Bundesligasaison noch ungeschlagenen (und unschlagbaren?) Bayern. Von jenem kalten Tag Ende November hätten dann in ferner Zukunft noch viele Berliner Kinder und Enkelkinder erfahren.

Andererseits: Ist Vorfreude das richtige Wort, wenn sich – von emotionalen und irrationalen Fan-Träumen bereinigt – vorab eigentlich alle nur fragen, wie hoch es denn ausgehen wird für die Bayern? Diese Mannschaft gilt als so stark, dass sich sogar der Vergleich mit David und Goliath verbietet. Vor einer Woche hatte Hoffenheim gegen die Bayern ein gutes Spiel abgeliefert und trotzdem 0:4 verloren. Bayern-Trainer Pep Guardiola sagte anschließend, der Sieg seiner Mannschaft sei zu hoch ausgefallen. Ein ekligeres Lob für die Leistung des Verlierers gibt es kaum. Es ist ein Arschlochkompliment.

Wenn der Berliner etwas nicht leiden kann, dann sind es vergiftete Komplimente, aufgesetzte Höflichkeiten, Heuchelei. Und so trat Hertha BSC dann – nach einer zugegeben recht langen Anlaufphase – auch auf. Ihre erste Chance hatten die Gäste schon nach zwei Minuten, ihr Ballbesitz lag in der ersten Halbzeit zwischenzeitlich bei astronomischen 82 Prozent. Hertha brachte offensiv sehr wenig zustande, doch ein Tor gelang den Münchnern erst nach einer knappen halben Stunde. In der Fußball-Bundesliga anno Herbst 2014 ist das für einen Bayern-Gegner schon eine durchaus respektable Leistung.

Berliner Spieler, Trainer und auch Fans waren sich vorher einig: Gegen die Bayern in Normalform hat man keine Chance. Wenn das stimmt, haben die Bayern ihre Normalform am Samstag nicht erreicht. Denn in der zweiten Halbzeit legte Hertha jeglichen Respekt ab. Die Bayern machten auf einmal den Eindruck, als wüssten sie nicht, wie ihnen geschieht: Moment mal, ein Gegner, der sich wehrt? Vielleicht hatten Temperaturen um den Gefrierpunkt und der verflucht kalte Ostwind den Gästen zugesetzt, die mit vier deutschen und einem spanischen Weltmeister in der Startelf angetreten waren.

Auf den mit über 76.000 Zuschauern ausverkauften Rängen brodelte es in Durchgang zwei. Es gibt ja im Fußball kaum schönere Momente als den, wenn eine individuell unterlegene Mannschaft gegen einen übermächtigen Gegner ihre Chance wittert. Selbst der Laie auf der Tribüne versteht dann, dass beim Spieler auf dem Platz auch der Kopf über Sieg und Niederlage mitentscheidet. Wer an sich glaubt, kann gegen diese Bayern bestehen. Und die Spieler spürten: Hier geht was!

„Zieht den Bayern die Lederhosen aus“, hallte es bald durchs Olympiastadion, und fast hätte Angreifer Salomon Kalou den Übermut der Anhänger nach seiner Einwechslung belohnt. Vor zweieinhalb Jahren hatte Kalou den Münchnern mit Chelsea London schon den sicher geglaubten Champions-League-Titel weggeschnappt. Er weiß also, wie es geht. Doch an diesem Samstag kam er gegen Bayern-Torwart Manuel Neuer einen Schritt zu spät.

Fünf Minuten vor Spielende vergab Herthas Abwehrspieler John Anthony Brooks die größte Chance. Er drosch den Ball übers Tor, wie es Verteidiger halt gerne machen. Und bei den Fans meldete sich wieder die Ambivalenz: Besser als erwartet, da kann man nicht meckern. Aber eben auch: Heute war mehr drin.

Was also bleibt für Hertha BSC vom ersten Adventswochenende? Es gab kein Arschlochkompliment von Pep Guardiola – der war also wirklich beeindruckt. Doch ein gutes Spiel gegen Bayern ändert nichts daran, dass die Berliner nun im Abstiegskampf stecken. Wirft der Weihnachtsmann einen Blick auf Herthas Wunschzettel, wird dort wohl nur eine Sache stehen, doppelt unterstrichen: Klassenerhalt.

TORSTEN LANDSBERG

Leibesübungen SEITE 18