Der Schriftsteller als behutsamer Konservator

ERZÄHLSTRUKTUR Die jüngere Geschichte Deutschlands – aufgehoben in individuellen Geschichten: In seinem Band „Winterfisch“ erzählt Gregor Sander skrupulös von gewaltsam verbogenen Biografien

Eine kühle Prosa, der man die Handlungsorte Rostock, Rügen, Hiddensee fast anzuhören glaubt

Gregor Sander erzählt in „Jenseits“, der letzten von neun Geschichten, von einem fingierten bildenden Künstler, der die Kapelle im neuen Reichstag gestaltet hat. Jener Werner Randow wird gleich nach Kriegsende von den russischen Besatzern gezwungen, die an den Ostseestrand angeschwemmten Toten der „Cap Arcona“ zu beerdigen. (Der ehemalige Luxusdampfer beförderte Häftlinge des aufgelösten KZ Neuengamme, wurde von der Royal Air Force für einen Truppentransporter gehalten und versenkt, wobei fast alle der über 4.000 Gefangenen ertranken.) Ein traumatisches Erlebnis, das sich in dessen Werk offenbar unmittelbar eingeschrieben hat.

Einer der Protagonisten, der Randows Biografie skizziert, erzählt anschließend von einer Grundschulklasse, die während ihrer Reichstagsbesichtigung auch durch die Kapelle geführt und gefragt wird, „ob sich die Kinder vorstellen könnten, was die Politiker hier tun würden. Erst war es still, und dann sagte ein Mädchen zögernd: ‚Vielleicht beten? Für die Toten vom Krieg.‘ Es war ein kleines Mädchen, das keine Ahnung hatte, was es da sagte, und ich habe mich gefragt, ob dieser Tag damals noch immer in den Bildern zu sehen ist?“

Wenn es nach dem 1968 geborenen Autor Gregor Sander geht, sehr wohl. „Jenseits“ ist im Kern ein poetologischer Rechenschaftsbericht. Der Autor diskutiert hier nur leicht verschlüsselt die eigene, die konservatorische Funktion der Literatur in den Mittelpunkt rückende Ästhetik. In den meisten Erzählungen von „Winterfisch“ ist die repressive, gewalttätige, Biografien verbiegende jüngere Geschichte Deutschlands aufgehoben in den individuellen Leidensgeschichten seiner Protagonisten. In „Stüwes Tochter“ zum Beispiel laboriert die Heldin an einem unverbesserlichen Stasi-Vater, der ihren oppositionellen Freund gefoltert und seelisch gebrochen hat. In „Der Stand der Dinge“ kommen die Eltern eines auf der Flucht erschossenen Republikflüchtlings nicht hinweg über dessen Tod und begehen jeden Geburtstag ihres Sohnes mit dessen Lieblingsessen. Und „Haus Seeblick“ erzählt von einer im Zuge der „Aktion Rose“ (1953) enteigneten und unter unwürdigen Bedingungen inhaftierten Hotelbesitzerin, deren Hab und Gut verstaatlicht wird und die nach ihrer Entlassung in den Westen flieht.

Was hier in der rudimentären Plotskizze zu plakativ und anklägerisch klingt, liest sich in der kühlen, sachgemäßen, komplett metaphernlosen Prosa des Autors, der man die Handlungsorte – Kühlungsborn, Rostock, Rügen, Hiddensee etc. – fast anzuhören glaubt, eher leise fatalistisch. Dafür sorgt auch die Erzählstruktur. Sander konstruiert fast immer einen narrativen Rahmen, der in der Gegenwart spielt. Häufig sind es Liebesgeschichten, die den Anlass für die in die Historie ausgreifende Binnenerzählung liefern. Das schafft Distanz. Der Erzähler macht sich die Geschichte nicht zu eigen, er erzählt sie als etwas, das er selbst auch nur erzählt bekommt. Sanders Ideal vom Künstler als behutsamem Konservator zeigt sich somit auch im Formalen.

In der Rahmenerzählung von „Jenseits“ macht Sanders Alter Ego mit seiner schwangeren Frau Urlaub im kleinen Ostseedorf Rerik, dem Ort, wo die Toten der „Cap Arcona“ angeschwemmt wurden. Hier spielt aber auch Alfred Anderschs Klassiker des Deutschunterrichts „Sansibar oder der letzte Grund“. Der Roman ist literarische Anspielstation und novellistisches Dingsymbol in einem, er bündelt noch einmal die Themen dieser Erzählung – und damit auch des ganzen Bandes.

Zum einen nimmt Alfred Andersch, ausgehend von der Barlach-Plastik „Der lesende Klosterschüler“, Kunst auf ganz ähnliche Weise in Anspruch – als Gefäß für das historisch Bewahrenswerte. Zum anderen manifestiert sich in dem Buch die Geschichte der deutschen Teilung und folglich auch die Notwendigkeit, einander davon zu erzählen. Seine Frau Anne konnte das Buch in der DDR nämlich nicht lesen.

Am Ende der Geschichte offenbart sich noch einmal der Autor als poetologischer Bauchredner. „Ich dachte an das Kind, das da in Anne wuchs, und daran, dass es mein Rerik aus dem Andersch-Buch immer noch gab. Eigentlich völlig unverändert. Aber dass da jetzt noch ein anderes Rerik für mich war und eine Geschichte, die ich nie vergessen werde. Und dass ich dem Kind davon erzählen möchte. Später, viel später einmal.“ Geschichte in individuellen Geschichten zu erzählen, das ist sein erklärtes Ziel. Bei Gregor Sander kann man sicher sein, dass das Kind aufmerksam zuhören wird. FRANK SCHÄFER

Gregor Sander: „Winterfisch“.Wallstein Verlag, Göttingen 2011. 190 S., 18 Euro