Der Kessel brodelt

Ministerpräsident Kretschmann schluckt den Stresstest, das Aktionsbündnis steigt aus und wieder ein, die SPD hetzt den S-21-Gegnern das Finanzamt auf den Hals, „Bürger für Stuttgart 21“ diffamieren einen SWR-Journalisten, und die Justiz verfolgt Demonstranten mit großer Energie. Es brodelt im Kessel, und es ist kalt. Die Bilanz einer Woche

von Josef-Otto Freudenreich

Die junge Mutter mit dem zweijährigen Buben sucht Rat in der Redaktion. Sie war Zeugin jener Montagsdemonstration, bei der ein Polizist verletzt wurde, und sie will erzählen, wie es aus ihrer Sicht war. Sie sagt, sie habe nicht gesehen, dass auf den Beamten eingeprügelt wurde, vielmehr hätten Platzbesetzer und sie dem Mann geholfen. Das müsse sie doch der Polizei zu Protokoll geben, aber sie traue sich nicht. Sie ist Ausländerin. Am nächsten Tag geht sie aufs Revier und will berichten, doch vorher soll sie ihre Fingerabdrücke abgeben. Das verweigert sie. Ohne Anwalt, betont sie, sage sie nichts mehr. Sie hat einfach Angst.

Andere Zeugen kommen nicht freiwillig. Sie finden plötzlich Post von der Staatsanwaltschaft in ihrem Briefkasten, mit der sie vorgeladen werden. Ein Sozialpädagoge hat Fotos von den umstrittenen Szenen gemacht und ist nun seinerseits auf Fotos identifiziert worden. Er fragt sich jetzt, ob er bald zu dem Personenkreis zählen wird, dem der angebliche Schaden von 1,5 Millionen Euro aufgebrummt werden soll. Pro Person, so ist ja hochgerechnet worden, 70.000 Euro. Und er fragt sich, ob die Staatsanwaltschaft mit derselben Energie arbeitet, wenn sie „weiße Kragen“ verfolgt. Aber das ist eine andere Geschichte. Und das Gefühl der Ohnmacht wächst.

BUND soll sich nur um Juchtenkäfer kümmern

Gewiss werden die staatlichen Organe sehr genau prüfen, ob der BUND noch gemeinnützig ist, wenn er sich in die politische Debatte einmischt. Womöglich gilt der Satzungszweck nur für den Erhalt des Juchtenkäfers, der zwar auch ein Teil des S-21-Komplexes ist, aber kein zentraler. Im Ernst: Dass der Kasus von einem Sozialdemokraten ins Rollen gebracht wurde, dem Ulmer Abgeordneten Martin Rivoir, ist kein Zufall. Eine Kleine Anfrage im Landtag, und schon tritt das Finanzamt auf den Plan. Der Kämpfer für den Tiefbahnhof weiß natürlich, dass der BUND die Schaltstelle des Aktionsbündnisses ist, in der allein die Strukturen, organisatorisch wie finanziell, vorhanden sind, um den Protest immer wieder in die richtigen Bahnen zu lenken. Mit Nachdruck.

Womit wir beim Ausstieg aus dem Ausstieg sind und der Frage, wie es wohl zur plötzlichen Teilnahme an Geißlers Stresstest kam, den das Aktionsbündnis vorher als jesuitisches Täuschungsmanöver gebrandmarkt hatte. Die Antwort, so berichten Mitglieder der Elferrunde, lautet: Der angeschlagene BUND, an seiner Spitze Geschäftsführerin und Bündnissprecherin Brigitte Dahlbender (SPD), habe sich dem massiven Druck beugen müssen, der von der eigenen Organisation und der SPD aufgebaut worden sei. Dahlbender spricht dagegen von unzähligen E-Mails aus dem ganzen Land, in denen sie aufgefordert worden sei, die Bühne zu nutzen.

Bei Geißler nicht mitzuspielen hieße, ein Schmuddelkind zu sein, das in der Oberstadt nichts mehr zu suchen hat. Mit dem BUND gestimmt haben Pro Bahn, VCD, Grüne und SPD gegen S 21, dagegen waren SÖS, Die Linke, Gewerkschafter gegen S 21 und die Parkschützer, womit die Trennlinie zwischen Gut und Böse wieder klar gezogen war. Wenn Geißler seinen Stresstest präsentiert, sind die einen eben im Rathaus, die anderen davor. Am Rande der Gesellschaft sozusagen, als Outlaws, die sich ihrem Konsenszwang verweigern.

So fügt sich das eine zum andern, insbesondere im Sinne der Urlaubsvertretung der CDU, der SPD-Führung, die im Hintergrund die Fäden spinnt, man könnte auch sagen: die Daumenschrauben anzieht. Finanzminister Nils Schmid erklärt den Stresstest für gelungen, dem grünen Verkehrsminister wird gedroht, ihn über die Klinge springen zu lassen, wenn es eine passende Mehrheit gibt. Und die SPD sagt ab, wenn bei Gangolf Stockers Volksversammlung Position bezogen werden soll. Kurzum: die Spitzengenossen sind sicher, dass die Zeit für sie arbeitet, und in der Zwischenzeit tun sie alles dafür, unterirdisch voranzukommen. Die Mitglieder bleiben dabei im Besenwagen.

Kretschmanns Spielraum geht damit gegen null. Der Ministerpräsident ist doppelt gefangen. Von der Volksabstimmung, die seine Partei gewollt hat – sie kommt nach dem Stresstest und wird, aller Wahrscheinlichkeit nach, verloren werden. Von der SPD, die in aller Ruhe abwarten und immer betonen kann, der Bürger als Souverän werde entscheiden. Und die immer wieder mit der schwarzen Karte winken kann, wenn ihr die Grünen zu grün werden sollten. Also bauen oder gehen.

Verschärfend kommt hinzu, dass Kretschmann in der öffentlichen Debatte eingemauert ist. Die Leitartikler fordern wieder einmal zur demokratischen Gesinnung auf, die, allem Tarnen und Täuschen von Bahn und alter Landesregierung zum Trotz, nichts anderes meint, als sich jetzt endlich der normativen Kraft des Faktischen zu ergeben. Ob da noch der ein oder andere Skandal als Sumpfblüte auftaucht – was ändert es? Und wer daran erinnert, dass die Welt nicht so einfach ist, ist gleich ein Ideologe.

SWR-Reporter gerät unter Druck

Hier beginnt die Geschichte von Harald Kirchner. Seit 14 Jahren berichtet der 49-jährige Lockenkopf im Südwestrundfunk (SWR) über das Thema S 21. Er hat Mehdorn und Grube erlebt, Oettinger und Mappus, Schuster und Gönner, und er hat gelernt, dass in diesem Spiel alles relativ ist. Entsprechend vorsichtig geht er zu Werke, hört beide Seiten und reportiert, was sie zu sagen haben. Der Hang zu Bekenntnissen, zumindest vor der Kamera, ist ihm fremd, das wäre auch nicht öffentlich-rechtlich.

Für die „IG Bürger für Stuttgart 21“, nach eigenen Angaben die größte überparteiliche Organisation für S 21, ist Kirchner ein „bekennender Gegner“, der im Büro von Verkehrsminister Hermann mehrmals wöchentlich ein und aus gehe. Durch diese „bewusste Absprache“ heize der SWR den Druck auf Stadt, Bahn und Befürworter immer weiter an. Diese Berichterstattung sei „in höchstem Maße“ zu verurteilen. Eine „bizarre Situation“, sagt Kirchner, der vom anderen Lager den Vorwurf hört, ein Knecht des CDU-Rundfunks zu sein.

Die Geschichte wäre keine, wäre sie nicht alt und neu zugleich. Dass ausgekeilt wird, von allen nach allen Seiten, ist im Milliardenpoker S 21 zur Gewohnheit geworden. Im Kampf um die Deutungshoheit ist so ziemlich jedes Mittel recht, die Beschimpfung des jeweiligen Feindes inklusive. Das (be)trifft auch die Akteure im Mediengewerbe, worüber der ein oder andere Holzschnitzer nicht völlig verwundert sein sollte. Eine neue Qualität ist freilich dann erreicht, wenn ein Journalist, der einfach seine Arbeit tut, öffentlich an den Pranger gestellt wird. Von einem Verein, der vorgibt, für Bürger zu sprechen, und sie nur für seine Propaganda missbraucht. Der Scheiterhaufen ist dann, Stand Juli 2011, nicht mehr weit.