„Neue Lehrer nach alter Sitte“

All die Reformen haben wenig geändert an der Qualität der Lehrerbildung, meint Klaus Klemm. Er ist einer der profiliertesten Kritiker der deutschen Bildungslandschaft. Am Montag hält er seine Abschiedsvorlesung. Teil 2 der taz-Serie „Lehren lernen“

KLAUS KLEMM, 64, Erziehungswissenschaftler und Bildungsökonom, ist Leiter der Arbeitsgruppe Bildungsforschung/Bildungsplanung an der Universität Duisburg-Essen. Klemm war Mitglied im wissenschaftlichen Beirat der Kultusministerkonferenz zur Bildungsberichterstattung.

taz: Herr Klemm, wenn Sie am kommenden Montag Ihre letzte Vorlesung halten, blicken Sie auf 35 Jahre in der Lehrerausbildung zurück. Gehen Lehrerinnen und Lehrer heute besser vorbereitet an die Schulen als 1972?

Klaus Klemm: Nein, eigentlich nicht.

Warum nicht – ist von der Debatte über didaktische und erziehungswissenschaftliche Anforderungen nichts in der Uni angekommen?

Doch, die Landesregierungen und Universitäten reagieren auch ständig – ich schätze, dass ich nach vier oder fünf verschiedenen Prüfungsordnungen unterrichtet habe. Nur hat keine der Reformen etwas Prinzipielles verändert. Es gibt etwas mehr erziehungswissenschaftliche Anteile, aber fast keine Ausweitung der Praxis – angehende Lehrer verbringen während ihres gesamten Studiums nur zehn Wochen in der Schule.

Gerade in Nordrhein-Westfalen haben einige Hochschulen den Bologna-Prozess frühzeitig für die Einführung von Reformstudiengängen für die Lehrer von morgen genutzt.

Dazu kann ich nichts sagen, weil ich nicht an einer solchen Hochschule bin – die meisten Studierenden aber auch nicht. Grundsätzlich lässt sich noch nicht absehen, wozu die Einführung des Bachelor und Master führen wird. Fest steht aber, dass auch jede wegweisende Reform zu spät käme. Flächendeckend werden die ersten Bologna-Studenten 2012 oder 2013 ins Referendariat gehen. Kommen sie auf den Arbeitsmarkt, ist die große Einstellungswelle vorbei. Die 25.000 bis 30.000 Lehrer, die in jedem der kommenden Jahre eingestellt werden, sind nach alter Sitte ausgebildet. Die Politik hat eine Riesenchance verschlafen.

Wie würde eine bessere Lehrerausbildung aussehen?

Die strikte Trennung zwischen theoretischer Studienphase und Praxiserwerb gehört aufgehoben. Wenn ein Lehramtsstudierender nach vier oder fünf Jahren merkt, dass der Beruf nichts für ihn ist, ist das zu spät – für die Schüler wie für die angehenden Lehrer, die dann kaum eine berufliche Alternative haben. Wenn Studierende mehr Praxis erleben würden, könnten sie aber auch Dozenten ganz anders mit der Realität konfrontieren. Sie könnten sagen: „Was du hier erzählst, habe ich letzte Woche ganz anders erlebt.“ Damit bekäme auch die Lehre einen Schub.

Was sind das für Leute, die Lehrer werden wollen?

Viele mögen Kinder und glauben, dass sie Spaß haben, denen etwas zu vermitteln. Andere sind an einem Fach – beispielsweise Geschichte – interessiert und sehen keine Chance, ihrem Hobby in einem anderen Beruf nachzukommen. Und es gibt die, die schlicht aus Verlegenheit Lehrer werden – vielleicht weil es mit einer Lehre bei der Sparkasse oder bei Karstadt nicht geklappt hat. Die breite Streuung ist zwar kein Spezifikum des Lehramts – aber da ist es natürlich besonders misslich, wenn Leute dabei sind, die Kinder nicht mögen.

Als Bildungswissenschaftler haben Sie die Schulleistungsstudie Pisa nicht nur kritisiert, sondern dem Konsortium auch regelrechte Fehler nachgewiesen. Nach Pisa I haben Sie belegt, dass das gute Ergebnis Bayerns verzerrt ist – weil die überdurchschnittlich vielen Berufsschüler nicht mitgetestet und so viele Lernschwächere nicht erfasst wurden.

Das war ein Rechenfehler, auf den man unbedingt aufmerksam machen musste. Grundsätzlich halte ich Pisa aber für ein zentrales Instrument der Bildungsforschung – wenn man zwei Dinge im Auge behält: Erstens müssen die Ergebnisse sorgfältig kontrolliert werden. Zweitens muss man genau hingucken, was die Daten aussagen, was nicht. Das simple Ranking der Bundesländer nützt nichts.

Was ist die wesentlichste Erkenntnis aus Pisa?

Wie viel besser es andere Länder schaffen, Kinder mit schlechteren Bildungsvoraussetzungen angemessen zu unterrichten. Dass wir das in Deutschland nicht können, wussten wir seit den 70er-Jahren – aber jedes Mal, wenn Sie vor Pisa soziale Selektivitätsdaten vorgelegt haben, hieß es: Das ist halt so. Seit Pisa wissen wir, dass es nicht „halt so ist“ und nicht so sein muss.

Sie haben auch nachgewiesen, dass die unterschiedlichen Bedingungen in den Bundesländern für das unterschiedliche Abschneiden bei Pisa mit verantwortlich waren. Kann man den sozialen Hintergrund nicht „herausrechnen“ und schulische Qualität so vergleichbar machen?

Ganz können Sie das nicht. Es ist zwar statistisch möglich, beispielsweise Kinder aus armen Familien nicht mitzuzählen. In einer Stadt wie Bremen oder Berlin vergleichen Sie dann von 20 Kindern in einer Hauptschule immer nur 5 mit 15 Kindern einer durchschnittlichen bayerischen Klasse. So bekommen Sie aber nicht heraus, ob nicht alle Schüler in besseren Lerngruppen besser abschneiden würden. Das Umfeld der Schule entscheidet maßgeblich über den schulischen Erfolg. Und die Bedingungen in Bundesländern wie Bremen oder Berlin sind per se schlechter als in Bayern.

Sie haben ebenfalls errechnet, dass Deutschland so gut ist wie das hoch gelobte Schweden, wenn man die Ergebnisse der Migranten nicht mitzählt …

Ja, und prompt hieß es aus der rechten Ecke: Seht her, selbst der Klemm sagt, ohne die wären wir besser. Die Nachricht ist eine andere: Das miserable Abschneiden Deutschlands ist zu einem erheblichen Teil auf die ungenügende Förderung von Kindern aus zugewanderten Familien zurückzuführen. Jedes andere Land fördert den Nachwuchs besser. Das ist der Skandal.

Ist die Zusammenlegung von Haupt- und Realschulen, wie Hamburg sie mit der Stadtteilschule plant, eine richtige Antwort?

Ich habe lange gesagt: Nein! Wir brauchen eine Schule für alle – nicht eine für viele und eine für das obere Drittel. Mit dem Gedanken der Bildungsgerechtigkeit hat das nämlich nichts zu tun. Auch wenn ich das inhaltlich immer noch so sehe, bin ich heute nicht mehr sicher, ob wir die Generation völlig perspektivloser Hauptschüler dem Festhalten an dieser Idee opfern sollten – oder nicht lieber, weil es der einzig mögliche Kompromiss ist, sagen: Okay, wir machen es. Auch wenn das zweigliedrige System sicher nur der zweitbeste Weg ist.

Andere Bildungsexperten wie Dieter Lenzen sagen: Das Gymnasium ist die beste Schulform, die wir haben; es wäre Wahnsinn, sie aufzugeben.

Ich kann ihm da nicht folgen. Wenn wir unterstellen, dass Gymnasiasten die besten sind, die wir in Deutschland haben – dann müssten sie doch wohl besser sein als die 30 Prozent besten Finnen, Franzosen oder Schweden. Das sind sie aber nicht. Wir separieren also diese Leuchten, geben ihnen die Chance, unbehelligt von den Schwächeren zu lernen und sie sind trotzdem schlechter als ihre Altersgenossen in Ländern, in denen alle gemeinsam lernen.

Zeichnet sich eine bessere Finanzausstattung des Bildungssystems ab?

Nein. Inflationsbereinigt sind die öffentlichen Bildungsausgaben zwischen 2002 und 2004 sogar zurückgegangen. Dass es mehr Geld gäbe, ist eine Mär, zu der nicht zuletzt das Viermilliardenprogramm für die Ganztagsschulen beigetragen hat. Wenn Deutschland so viel für Bildung ausgeben würde wie Schweden, müssten aus heute 105 gut 150 Milliarden im Jahr werden. Dagegen sind vier doch eher mager.

INTERVIEW: JEANNETTE GODDAR