Obama wendet sich im Schuldenpoker an das Volk

USA In einer Fernsehansprache warnt der Präsident, eine Zahlungsunfähigkeit werde alle Bürger im Alltag treffen. Demokraten und Republikaner verhaken und beschuldigen sich gegenseitig. Letztere nennen Spitzenverdiener neuerdings „Arbeitsplatzschöpfer“

„Dies ist ein gefährliches Spiel, das wir nie zuvor gespielt haben“

BARACK OBAMA

AUS WASHINGTON DOROTHEA HAHN

Das amerikanische Roulette in Washington geht in die nächste Runde. In zwei Fernsehansprachen acht Tage vor der möglichen Zahlungsunfähigkeit der USA haben sich Barack Obama und der republikanische Chef des Repräsentantenhauses, John Boehner, am Montagabend weiter ineinander verhakt und gegenseitig beschuldigt.

Während der Präsident weitgehende Zugeständnisse an die Opposition machte, um das Haushaltsproblem für die nächsten zwei Jahre zu lösen, will Boehner inzwischen nur noch einer Übergangslösung für sechs Monate zustimmen. Das würde darauf hinauslaufen, dass es am Jahresende, wenn die USA bereits im Präsidentschaftswahlkampf stecken, eine neue Runde im Schuldenpoker gibt.

„Dies ist ein gefährliches Spiel, das wir nie zuvor gespielt haben“, sagte Obama. „Wir können es uns nicht leisten.“ Eine portiönchenweise Anhebung der Schuldengrenze nennt er eine „Gefährdung der Wirtschaft“. Eine Zahlungsunfähigkeit der USA, zu der es am 3. August kommt, falls es bis dahin keine Einigung zwischen Demokraten und Republikanern gibt, werde eine „tiefe wirtschaftliche Krise“ auslösen und alle Bürger im Alltag treffen. Unter anderem in Form erhöhter Zinsen für Haus- und Autodarlehen. „Wir können nicht zulassen, dass das amerikanische Volk ein Kollateralschaden des politischen Kriegs in Washington wird“, sagte Obama. Und verlangte Kompromissbereitschaft statt „rigider Ideologien“. Kompromiss, so der Präsident, sei „kein Schimpfwort“.

In dem Versuch, einen Säulenheiligen der rechten Tea-Party-Bewegung zu vereinnahmen, stellte Obama rhetorische Fragen: „Wollen wir das Defizit reduzieren und die Zinssätze senken, indem wir die Einnahmen bei denen erhöhen, die im Augenblick nicht ihren gerechten Anteil zahlen? Oder wollen wir lieber höhere Haushaltsdefizite, höhere Zinssätze und eine höhere Arbeitslosigkeit?“ Die Fragen stammen von Ronald Reagan. Der republikanische Präsident hat in den 80er Jahren 18-mal die Schuldengrenze angehoben. Ebenfalls ohne Widerstand aus dem Kongress hat der letzte republikanische Präsident, George W. Bush, die Schuldengrenze 17-mal angehoben. In seiner Amtszeit begannen die Kriege in Afghanistan und im Irak, die den Grundstock des jetzigen Haushaltsdefizits bilden. Eine Blockade wie die aktuelle hat es nie zuvor in den USA gegeben.

Der Präsident unterstützte in seiner 15-minütigen Ansprache aus dem Weißen Haus – ebenfalls eine Premiere in einer US-Schuldendebatte – einen neuen Gesetzentwurf des demokratischen Chefs des Senats, Harry Reid. Mit dem Reid-Plan soll das US-Haushaltsdefizit in den nächsten Jahren um vier Billionen Dollar gesenkt werden. Er sieht tiefe Einschnitte bei nationalen und bei militärischen Ausgaben vor, verschiedene Sozialausgaben sollen gekürzt und mehrere „Steuerlücken“ für Spitzenverdiener geschlossen werden. Als Geste an die Republikaner soll dafür auf eine Anhebung der Steuern auf Jahreseinkommen von mehr als einer Viertelmillion Dollar verzichtet werden. Als Geste an die linke Basis sollen nach Reid-Plan die Sozialversicherung und die Krankenversicherung für Alte und Bedürftige im bisherigen Rahmen bleiben.

Obama nannte den Reid-Plan „ausgeglichen“. Dass er bislang noch nicht Gesetz geworden sei, liege ausschließlich daran, dass eine „beträchtliche Zahl“ von Republikanern nichts anderes wolle, als „Einschnitte“, sagte er. Namentlich erwähnte der Präsident die Tea Party nicht. Deren Abgeordnete sind bei den Halbzeitwahlen im November erstmals in den Kongress gekommen. Seither haben sie Politik und Sprache der Republikaner spürbar nach rechts verschoben. Steuererhöhungen lehnen sie kategorisch ab, auch für jenes eine Prozent der Bevölkerung, das mehr als 250.000 Dollar im Jahr verdient und gegenwärtig nur 35 Prozent Steuern zahlt. Steuern „killen Jobs“, begründen die Republikaner ihre Ablehnung. Spitzenverdiener heißen in ihrem neuen Jargon „Arbeitsplatzschöpfer“.

In seiner fünfminütigen Antwort auf Obama empfahl der Repräsentantenhaus-Chef Boehner das Kleinunternehmen als Vorbild für die US-Volkswirtschaft. „Als Kleinunternehmer weiß ich“, sagte Boehner, „dass man nur so viel ausgeben kann, wie man einnimmt.“ Er sprach von einem „Blankoscheck für Obama“, den er ablehne. Und warf dem Präsidenten vor, eine „Krisenatmosphäre“ geschaffen zu haben. Nachdem Boehner wenige Tage zuvor einen gemeinsamen Vorschlag mit Obama vorgelegt hatte, der dem Reid-Plan stark ähnelte, war er nach Protesten aus der Tea Party wieder auf Abstand gegangen. Am Dienstag stellte seine Partei einen neuen Plan vor, der nur eine Laufzeit von sechs Monaten hat und der eine Schuldenobergrenze in die Verfassung schreiben will. Für den Fall, dass die USA zahlungsunfähig werden, macht Boehner den US-Präsidenten verantwortlich. Ein paar Hinterbänkler der Republikaner kündigen bereits eine Amtsenthebungsklage gegen Obama an.