„Inkorporierte Andersheit“

Food-Design und Chuzpe statt Kunst und Geschmack: Starkoch Ferran Adrià nimmt an der documenta teil, ohne teilzunehmen. Und zeigt sich ein weiteres Mal als ein Meister des Entzugs

VON TILL EHRLICH

Als der spanische Molekularkoch Ferran Adrià nach Kassel zur documenta kam, trug er Schwarz, die Farbe der Trauer und der coolen Existenzialisten. Die Kleidung am Leib des 45-jährigen Kochs wirkte wie eine sentimentale Reminiszenz an die zugeknöpften Avantgardisten des letzten Jahrhunderts mit ihrem sadomasochistischen Eros des Entzugs der Fülle; sie erinnerte zudem an die Farbe der Jesuiten. Das Weiß der Köche hatte Adrià jedenfalls feierlich anschwärzen lassen, als er den roten Teppich in der Orangerie auf dem documenta-Gelände betrat, den ihm Ausstellungsleiter Roger Buergel allzu willig ausgebreitet hatte.

Adrià ist wohl der prominenteste documenta-Teilnehmer, ohne wirklich an ihr teilzunehmen. Er war der Erste, mit dem Buergel schon monatelang in den Medien präsent war, noch bevor er über sein kuratorisches Konzept irgendetwas Konkretes verlauten ließ. Zuerst hieß es, Adrià kommt. Kurz vor der Eröffnung sagte er ab, und schließlich wollte er dann doch in Kassel erscheinen. Für ein halbstündiges Pressegespräch. Kochen wolle und könne er auf der documenta nicht, er sei schließlich kein Cateringkoch, hieß es. Bloß was wolle er dann dort tun, wenn er nicht kochen kann? Worin würde sein documenta-Beitrag bestehen? Darauf gab es lange Zeit keine Antwort. Bis zur letzten Minute der Eröffnung wurde die Geheimniskrämerei genüsslich auf die Spitze getrieben. Und spätestens da ahnte man, wie das Adrià-Buergel-System funktioniert: maximale Aufmerksamkeit erregen, alle kirre machen und sich dann entziehen. Das scheint irgendwie geheimnisvoll und erotisch zu sein und funktioniert garantiert.

Adrià, der Techniker des Extrahierens, ist ein Meister des Entzugs, seine Karriere wäre ohne Tricks dieser Art undenkbar. Er ist ein Illusionist in der Küche, der sich und das Kochen in Luft auflöst und sich dabei auf dasselbe Mysterium beruft wie die Verwandlungslehre der Theologie: auf die Realpräsenz des Höchsten im Opfermahl.

Natürlich war der heilige Ferran nicht wirklich nach Kassel gekommen, und bis heute ist ungewiss, ob er leibhaftig da war oder nur eine wundersame Erscheinung. Adrià war gekommen, um zu erklären, warum er nicht gekommen ist. Doch bevor er der gierigen Pressemeute präsentiert wurde wie die geweihte Hostie dem Pilgervolk, trat Buergel vor, um sie zu züchtigen, damit sie dem Meister andächtig zuhören und keine unangenehmen Fragen stellen würden. Dazu brauchte Roger Buergel exakt vier Minuten. Er zeigte der internationalen Journaille kurz einige Folterinstrumente, wie eine Domina ihrem Kunden. Er sagte, es gehe bei Adrià um „Verstehensirritationen“ und „inkorporierte Andersheit“, bei denen es nur eine „begrenzte Teilhabe“ gebe. Angeblich will eine Million Menschen in Adriàs Restaurant „El Bulli“ essen, doch es gibt nur achttausend Plätze pro Saison. Das sei ein Moment der Frustration, doch Frustration sei ein unverzichtbarer Prozess von Bildungsprozessen.

Es ging also nicht um Kunst, und schwupp, irgendwie schaffte es Buergel auch noch, in der Globalisierungskritik anzukommen: Regressiv sei es, zu denken, dass sich alles in alles transformieren lasse. Jeder, der alle Tassen im Schrank habe, wisse, dass sich ein Restaurant wie El Bulli, das so kompliziert wie Gehirnchirurgie sei, nicht nach Kassel versetzen lasse. Und so gab es in Kassel statt heißen Schinkenschaums und pulverisierter Hummersuppe postmodernes Wortgewölk an vagem Seminarjargon, der vielleicht all jene einzuschüchtern vermochte, die kulturwissenschaftlich aufgeschäumte Allgemeinplätze noch nicht bis zum Brechreiz goutiert haben.

Als dann endlich das Geheimnis um Adriàs documenta-Beitrag gelüftet wurde, war die Täuschung offensichtlich: Während der hundert documenta-Tage sei täglich ein Tisch für zwei documenta-Besucher in Adriàs Restaurant El Bulli reserviert. Das liegt in Roses, einem Badeort bei Barcelona. Nun hieß es, dieser Tisch sei ein „Pavillon“ der documenta, und Buergel erklärte kühn gleich Adriàs gesamtes Restaurant zum documenta-Außenstandort. Auch die anderen, gewöhnlichen El-Bulli-Gäste seien nun „automatisch“ documenta-Besucher. Weil Adrià nicht zur documenta kommen will, pilgert die documenta zu ihm. So viel Chuzpe muss man erst mal haben. Und wer darf hin, welcher Auserwählte kann auf documenta-Kosten im El Bulli speisen? Normalerweise sucht sich Adrià seine Gäste selbst aus, doch für den documenta-Tisch lässt er seinen Freund Buergel ein bisschen an der Macht teilhaben. Buergel darf in „bewährter kuratorischer Willkür“ täglich zwei Gäste für Adrià auswählen und nach Spanien schicken. „Jeder, der mich auf diese Möglichkeit auch nur anzusprechen wagt, hat verloren“, meint Buergel, der die Macht des Auswählens und die Ohnmacht der Auserwählten genießt und mit seiner Frau Ruth Noack teilt: „Wir können hier in der Ausstellung einfach auf Leute zugehen, von denen wir denken, dass sie es gerade brauchen, nach Roses geschickt zu werden.“ Sieht man von solcherlei Hybris einmal ab, ist in Kassel von Adriàs eigentlicher Arbeit, den essbaren Kreationen, kaum die Rede.

Auch auf der documenta bleibt er sich treu, weckt große Erwartungen und entzieht sich. So wie er es in seinen dreißiggängigen Menüs tut. Aber was heißt schon Menü? Von den dreißig Häppchen, die im El Bulli nach einer strengen Choreografie aufgetischt werden, schmecken einem vielleicht zehn. Diesen Geschmack und seine Komposition würde man gern vertiefen. Genuss hat auch mit Dauer zu tun. Man möchte mehr davon, um ein Geschmackserlebnis zu intensivieren, Seitengänge der Synästhesie zu erfahren und Selbsttäuschungen zu erforschen. Geschmack ist ein Geschenk. Doch die Vertiefung wird verweigert. Wer sich Adriàs Speisen anschaut, sieht etwa ein Schachbrett aus Rote-Bete-Gelee oder Schokokleckse auf hellem Grund, die Jackson Pollock nachahmen. Sogar ein fettes, schwarzes Christuskreuz lässt der Meister von seinen Gehilfen mit dunkler Schokolade auf weiße Teller pinseln und mit Goldstaub dekorieren. Das wirkt pathetisch und übertrieben designt, wächst als Kitsch aus der Stilisierung einer katholischen Zeremonie heraus.

Was ist daran Kunst? Nur von einer rhetorischen Wirkungsästhetik her lässt sich „das Werk“ Adrias in einen Kunstkontext stellen. Das entspricht allerdings einem kulturwissenschaftlichen Begriff von Kunst, der Fragen der Rezeption in den Vordergrund rückt und letztlich in nominalistischer Pädagogik oder Beliebigkeit aufgeht. Aus kulturwissenschaftlicher Sicht ist die Differenz zwischen Kunst und Künstlichkeit zu vernachlässigen. Spricht man aber mit Künstlern, dann wird die Rezeption Nebensache, der Herstellungsprozess und die Begegnung mit der Andersheit des entstehenden Werkes treten in den Vordergrund. Ein kreativ Tätiger zielt nicht auf Wirkung ab, sondern entwickelt ein Verhältnis zur Andersheit des Mediums und eine Freude, an der Grenze des Unberechenbaren entlang zu intervenieren. Da gibt es einen Moment des Absturzes aus dem Feld der Kalkulation und einen Fall in den Bereich der Ästimation. Dabei entsteht die Dimension des Kreativen.

Adrià dagegen macht mit seinem Laborteam täglich endlose Versuchsreihen wie in den Versuchsküchen und Labors der Lebensmittelindustrie oder Pharmazieforschung und arbeitet sich empirisch experimentell zu ihn befriedigenden Lösungen vor. Die von ihm für gut befundenen Speisen leben von ihrer Blendung und ihrem schnellen Reiz. Sie werden hergestellt, um spezifische Effekte zu erzielen, und erfüllen mit Nachdruck eine rhetorische Funktion. Der Prozess der Herstellung selbst verläuft nach einem wissenschaftlich rationalen Ideal. Ob safrangelber Puffreis bei Adrià nun „dekonstruierte Paella“ heißt, pinkfarbene Lollis, Essenzen oder Pillen aus Roter Bete und Trüffeln produziert werden, heiße Gelatine und Eispulver auf Tellern drapiert wird – das Vorbild der Transsubstantiation ist auch mit einem kulturwissenschaftlichen Ästhetisierungsversuch nicht zu leugnen. Documenta-Leiter Buergel stellt Adriàs Manier in den Kontext von Kunst. Doch es ist ebenso wenig Kunst, wie es Kochen ist.

Dagegen ist die von Daniel Spoerri in den Sechzigerjahren begründete Eat Art etwas, was bis heute ästhetisch Bestand hat. Abgegessene Teller, gebrauchtes Besteck und Gläser mit eingetrockneten Resten wurden von ihm fixiert, samt Tisch um 180 Grad gedreht und als „Fallenbilder“ an die Wand gehängt. Aus Essensresten und Fleckenstrukturen entstanden reliefartige Bildlandschaften. Das Schöne daran: Zu sehen ist, dass jenseits der kultivierten, ausgeklügelten Esskultur etwas übrig bleibt von dem, was als Essen widerlich ist, aber eine antikulturelle und avantgardistische Qualität besitzt. Spoerris Arbeiten sind noch heute eine Frische und Kreativität eigen, die in krassem Gegensatz zum formreduzierenden Ästhetizismus des Ferran Adrià stehen.

TILL EHRLICH, geboren 1964, ist freier Autor in Berlin. Am Sonntag sendet DMAX um 22.10 Uhr „Kochrevolution mit Ferran Adrià“