Eine fatale Kombination

Sechs Patienten soll die Krankenschwester Irene B. auf einer Intensivstation der Charité getötet haben. Heute wird die Anklage auf lebenslänglichen Freiheitsentzug plädieren – wegen Mordes

VON UTA FALCK

Von Mord war die Rede, als vor zehn Wochen im Landgericht die Anklage gegen die Charité-Krankenschwester Irene B. verlesen wurde. Die 55-Jährige soll sechs Patienten mit der Überdosis eines blutdrucksenkenden Medikaments getötet haben, bei zwei weiteren soll sie den Versuch unternommen haben. Vier Taten hat die Angeklagte gestanden. Heute stehen die Plädoyers der Staatsanwaltschaft und der Nebenkläger auf der Tagesordnung.

Im Gegensatz zur Anklage hat die Verteidigung bislang von Tötung auf Verlangen gesprochen, ein Delikt, das mit maximal fünf Jahren Freiheitsentzug bestraft wird. Mit Mord wird aber vermutlich auch das Urteil begründet werden, das der Vorsitzende Richter Peter Faust am morgigen Freitag verkünden wird.

Irene B. gilt als voll schuldfähig. Entlastende Aspekte, wie die Angeklagte sie zu Beginn des Prozesses vortrug – sie habe „dem Willen der Patienten entsprechend und zu deren Wohl gehandelt“ –, haben sich nicht bestätigt. Kein Sterbender und kein Angehöriger hatte die Schwester offenbar jemals gebeten, dem Leiden ein Ende zu bereiten. Entsprechend kann das Urteil nur „lebenslänglich“ lauten.

Neun Sitzungstage lang befragte die 22. Große Strafkammer Kollegen und Vorgesetzte der Angeklagten sowie mehrere Gutachter. Die Öffentlichkeit erfuhr, wie ein Pfleger durch verdächtige Geräusche eine der Taten entdeckte. Sie erfuhr auch, dass sich die Charité wenig für das seelische Gleichgewicht des psychisch stark belasteten Pflegepersonals interessierte und keine Vorkehrungen für einen solchen „Unfall“ getroffen hatte. Deshalb vergingen auch sechs Wochen nach dem ersten Verdacht, bis B. verhaftet wurde.

Die Öffentlichkeit erfuhr des Weiteren von der Suspendierung der Stationsleiterin, die wenig unternahm, als sie Monate vorher von aggressivem Verhalten der Krankenschwester gegenüber Patienten erfuhr. Auch drei Pfleger wurden vom Dienst suspendiert, weil sie von dem Verdacht wussten, ihn aber nicht weitergaben, weil er sehr vage war. Der Prozess brachte lobende Worte der Ärzte über die tüchtige Schwester Irene zutage – und weniger Schmeichelhaftes von Kollegen, die sie als herrisch und schnippisch charakterisierten.

Wie die Schwester und die Situation in der Charité zur Schlüssel-Schloss-Kombination in einer Mordserie wurden, erhellte aber am ehesten das Psychogramm, mit dem der psychiatrische Gutachter Alexander Böhle B.s narzisstisch gestörte Persönlichkeit beschrieb. Böhle hat Irene B. in der Haft besucht und mit ihr auch über ihre Kindheit gesprochen. Nach seiner Erkenntnis war B. war ein einsames, introvertiertes Kind. In der Beziehung zur Mutter herrschte Kälte, den Vater vergötterte sie. Von ihm, dem 1889 geborenen Kriegsheimkehrer, übernahm sie die Religiosität und die feste Überzeugung, man müsse im Leben vor allem Stärke beweisen.

In der Klinikhierarchie hieß das für Irene B., sich nicht mit Untergebenen gemeinzumachen. Ihre Verachtung traf Schwestern und Pfleger, aber auch junge Ärzte. Sogar körperlich hat Irene B. diese Einstellung verinnerlicht: Stets legt sie ihren Kopf in den Nacken und reckt das Kinn in die Höhe, der Blick ist immer nach oben gerichtet.

Im Jüdischen Krankenhaus, wo sie von 1975 bis 1994 auf der Intensivstation arbeitete, wurde ihr diese Einstellung zum Verhängnis: Die Kollegen mobbten die dominante Stationsschwester erfolgreich aus ihrer Leitungsposition. Drei Monate später trat Irene B. eine neue Stelle auf der kardiologischen Intensivstation der Charité an. Auch hier regte sich Widerstand gegen sie – Aussprachen standen an.

Nach der Verhaftung konnte B. den Akten entnehmen, was die Kolleginnen gegen sie vorbrachten. „Sie war sehr empört über die Aussagen“, sagte Böhle. Hinterfragt, warum man sie so massiv ablehnte, habe sie aber nicht.

Der nächste biografische Einschnitt war die Trennung von ihrem Mann, der eine lange Krise vorausgegangen war. Seitdem wirkte sie auf Kollegen verschroben und unausgeglichen. Diese schlugen ihr vergeblich vor, weniger zu arbeiten. Doch Irene B. wollte keine Schwäche zeigen. Stattdessen stilisierte sie sich zur „Mitwirkenden des göttlichen Willens“, wie sie es Böhle erklärte. Macht, Idealisierung, Selbstbezug, das seien die Konstanten im Leben der nicht übermäßig intelligenten Frau. Diese Momente – Wut über die eigene Schwäche, Drang zur Macht, Idealisierung der eigenen Person – haben in Kombination mit einer untätigen Vorgesetzten schließlich dazu geführt, dass Irene B. tötete.