INSELLEBEN (1)
: Elterliche Eleganz

Zwei Schwalben drehten halsbrecherisch ihre Pirouetten

Vor ein paar Wochen hievte ein Stadtmagazin „Das neue Schöneberg“ aufs Titelblatt. Ich sah die schon abgegriffene, speckige Zeitschrift zufällig bei einem Falafelbäcker in der Akazienstraße und zuckte zusammen. Würde sich jetzt auch hier das wiederholen, vor dem ich aus Neukölln-Rixdorf geflohen war? Die Aufwärtsspirale: Messerstechereien, Stadtteilmütter, Quartiersmanagement, Ladenprojekte, Off-Galerien, Lesebühnen, Engländer, Schweden, Franzosen, Bier aus Franken und kontrolliert biologischer Döner?

In meiner Aufregung las ich den Artikel quer. Das Autorenpaar fabulierte vom Kunstboom an der Potsdamer/Hauptstraße, von den halb- bis illegalen Clubs auf den Brachen zwischen Kielgan-Viertel und Südende: Speer und er planten dort einst eine Nord-Südachse für die „Reichshauptstadt Germania“ – ein ambitioniertes Projekt, das nun dennoch in greifbare Nähe gerückt scheint: Die Fahrradfahrerlobby, die seit Jahren einen kreuzungsfreien Radweg quer durch Berlin reklamiert, hat nun, glauben wir den Autoren, obsiegt: Auf der Internetkarte des Bezirks wälzt sich bereits ein grüner Streifen vom Stadtrand bis zum Potsdamer Platz.

Oh, ich hasse Drahteselreiter, Galeristen und Bäcker, die trendheischig Hamburger „Franzbrötchen“ anbieten. Ich setzte mich an den Schreibtisch, um einen Querleserbrief an das Stadtmagazin zu verfassen, da wurde ich abgelenkt. Draußen in der Hitze des Sommers drehten zwei Schwalben halsbrecherisch ihre Pirouetten. Sie waren ein Paar, hatten ihr Nest in unserem Hinterhof unter dem Trauf gebaut, da wo das Regenrohr aus der Fassade ragt. Ich blickte vom Schreibtisch auf. Kniff ich die Augen zusammen, sah ich die Schnäbel der jungen Mehlschwalben. Das weckte Vatergefühle, und die Eleganz des Anflugs ihrer Eltern ließ mich jede Beschwerde vergessen.

TIMO BERGER