Das Maximum an Zwanglosigkeit

EVENTKULTUR Raus aus dem Konzertsaal, rein in die Lounge: Die Eventisierung der Klassik ist in vollem Gang. Oft geht die Musik dabei unter, aber im Wohnzimmer und in der U-Bahn entfaltet sich ganz lässig ihr Geist

Die Atmosphäre mag weniger steif sein, aber die Aufmerksamkeit wird nicht gesteigert

VON TIM CASPAR BOEHME

Möchten Sie Schubert in bequemer Rückenlage bei Dämmerlicht genießen, Neue Musik in der U-Bahn hören oder einem Pianisten in dessen Wohnzimmer beim Spielen über die Schulter schauen? Der moderne Klassikmarkt befriedigt so ziemlich jeden Kundenwunsch, wenn er nicht selbst Bedürfnisse weckt, von denen man bisher nicht wusste, dass man sie hatte. Die gute Nachricht ist, dass sich etwas tut im verschlafenen Klassikwesen. Die weniger gute, dass nicht jede Innovation musikalischen Mehrwert schafft.

Angefangen hat es mit der Yellow Lounge. Die vor sieben Jahren von der Deutschen Grammophon in Berlin gestartete Konzertreihe brachte Klassik in die Clubs, zur großen Freude aller Beteiligten. Mittlerweile ist sie so erfolgreich, dass es Ableger rund um die Welt gibt. Das Programm ist oft leicht gestaltet. Im Vordergrund steht das Erlebnis von Musik, die man entweder noch nicht so gut kannte oder bisher nur im Konzertsaal vorgespielt bekommen hat. Mit den zugehörigen CDs aus der Yellow-Lounge-Reihe möchte die Plattenfirma neue Käufer für ihren Katalog gewinnen. Fragt sich nur, ob die Yellow Lounge als Vermittlungsform wesentlich Neues mit sich bringt. Die Atmosphäre mag weniger steif sein als im Konzerthaus, die Aufmerksamkeit auf das Hören wird aber nicht unbedingt gesteigert.

Das Konzept „Klassik im Club“ setzt sich trotzdem auch jenseits gefälliger Lounge-Abende durch: Im Frühjahr gab es beim Festival „Lux Aeterna“ im Berghain Chormusik des 20. Jahrhunderts zu hören – zum ersten Mal in der Geschichte des Clubs. Leider befanden sich die Sänger direkt unter der Metalltreppe, über die man vom Erdgeschoss zur Tanzfläche gelangt, so dass die Stimmen schon mal im Gequietsche des Auf und Ab unterzugehen drohten. Mit ähnlichen Problemen sah sich auch das Festival „Klavierfieber“ konfrontiert: Bei dem Vorhaben, das Kulturforum mit Soloklavierwerken zu bespielen, kam es beim Konzert in der Neuen Nationalgalerie zu so starker Hallbildung, dass die Musik bei schnelleren Passagen zu verschwimmen begann. Da half es wenig, dass man durch die Glasfenster des Pavillons zugleich einen herrlichen Sonnenuntergang genießen durfte.

Akustik und Disziplin

Irgendwie ist es paradox: Bisher zeichnete sich der Klassikbetrieb dadurch aus, dass er Hörräume schuf, in denen die Musik unter möglichst idealen Bedingungen aufgeführt werden konnte. Dazu gehört an erster Stelle eine gute Raumakustik – und eine gewisse Besucherdisziplin. Dass Letztere abschreckend wirken kann, sei unbestritten: Die Allgegenwart von Dauerhusten im Konzert müsste man in diesem Zusammenhang noch einmal als Symptom des Protests überdenken.

Im Bestreben der neuen Klassikangebote, den Besuchern den Aufenthalt so zwanglos wie möglich zu gestalten, gerät die Idee des Hörraums jedoch zunehmend in den Hintergrund. Je stärker der Eventcharakter im Vordergrund steht, desto weniger scheint es um die ungehinderte Wahrnehmung von Musik zu gehen. Oder warum buchen Veranstalter ihre Klassikevents so häufig in akustisch unvorteilhaften Orten? Die Clubs, in denen gespielt wird, klingen meist deutlich schlechter als die bewährten Konzerthäuser.

Mit einem Maximum an Zwanglosigkeit will das Radialsystem sein Publikum am morgigen Donnerstag „klassisch abhängen“ lassen. Schon am vergangenen Wochenende wurden Liegematten in den Sitzreihen ausgelegt, auf denen man Darbietungen von Klavier- oder Vokalmusik in der Horizontale genießen konnte. Das ist einigermaßen behaglich. Ob damit Kontaktschwellen zur Hochkultur abgebaut werden, bleibt abzuwarten. „Abhängen“ könnte man auch prima im Club als „Klassik-Chillout“ während der Afterhour einsetzen. Mit dem Abhängen ist man ohnehin wieder in der Lounge gelandet – wollen die Klassikevents am Ende bloß ein „Gefühl von Musik“ erzeugen?

Andächtig lauschen

Im vergangenen Herbst lud das Festival „Piano City“ Neugierige zu Pianisten nach Hause ein. In einem intimen Rahmen konnte man mehr und weniger professionellen Künstlern aus nächster Nähe zuhören. Das Spektakel mit 70 Konzerten an einem Wochenende lenkte die Aufmerksamkeit tatsächlich auf die Musik: In den Wohnungen mit begrenzter Besucherkapazität wurde andächtig gelauscht.

Wenn man den privaten Charakter kleiner Konzerte meiden möchte, geht man mit der Musik nach draußen auf die Straße. Das hat das Ensemble Kaleidoskop mit seinem „Polytop für Iannis Xenakis“ im Juli getan. Nach einem Auftaktkonzert im Kammermusiksaal der Philharmonie zogen die Musiker tags darauf mit ihren Instrumenten durch Berliner U-Bahn-Stationen, um ahnungslose Passanten ohne Vorwarnung mit den schroffen Dissonanzen des griechischen Komponisten zu konfrontieren. Hier überließ es das Ensemble dem Zufall, wer die Werke hörte und wer nicht. So blieben immer wieder Passanten stehen, die wissen wollten, was da eigentlich gespielt wurde. Als Strategie, etwaige Berührungsängste mit schwieriger Musik zu bekämpfen, ging das Guerilla-Konzept allemal auf.

■ Klassisch abhängen: Radialsystem, 21. bis 23. Juli, 21 Uhr