Das Theater fällt in Ohnmacht

SCHAUSPIELSTUDIUM In Jakob Michael Lenz’ Komödie „Der neue Menoza“ (von 1774) misslingt das Projekt der Aufklärung. Studenten der Ernst Busch Schule interpretieren das Stück im dritten Stock der Volksbühne

Man las Rousseau und träumte vom richtigen Leben im falschen

VON ESTHER SLEVOGT

Schrill gewandete Kreaturen mit Wuschelperücken sitzen auf einem Sofa. Am verstimmten Piano macht sich voller Inbrunst eine junge Frauensperson zu schaffen. Der Vater trägt Schlafrock und sammelt Schmetterlinge. Die knackige Mutter ist sexuell in ihrer Ehe deutlich unterversorgt und stakst mit ihren Stöckelschuhen irgendwann in die Rahmen mit den Schmetterlingen hinein.

Ein fieser junger Graf mit Schönheitspflästerchen und exaltierten Bewegungen macht sich an die Mutter ran, um als künftiger Schwiegersohn doppelt unverzichtbar zu werden. Doch die bleiche Tochter des Hauses verliebt sich in einen komisch grunzenden Fremden, der aussieht wie ein aus einer Provinzzauberflöteninszenierung entflohener Papageno. Oder einer frühen Inszenierung des legendären Volksbühnenregisseurs Benno Besson entnommen, „Frieden“ mit Fred Düren zum Beispiel, vor ziemlich genau einem halben Jahrhundert. Das lehmfarbene Gewand des Fremden ist leicht lumpig, sein Gesicht mit Erde beschmiert: So sieht im dritten Stock der Volksbühne also Prinz Tandi aus, ein cumbanischer Prinz, den sein Schöpfer, der Dichter Jakob Michael Reinhold Lenz, aus der heidnischen Fremde auf die Suche nach westlicher Zivilisation und wahrem Christentum schickte. Dabei verschlägt es ihn ins provinzielle und abgelegene Haus des Herrn von Biederling.

1774 ist das Entstehungsjahr dieser Komödie. Man las Rousseau und träumte (wahrscheinlich zum allerersten Mal) vom richtigen Leben im falschen – wobei man damals unter dem richtigen Leben das naturbelassene, wilde verstehen wollte und als das falsche Leben das der Aristokraten betrachtet hat, die man alsbald dann dafür ja auch an die Laterne hängte.

Hier, in der Volksbühne, wo der Schauspieler und Regisseur Uwe Dag Berlin mit Studenten der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch (wo er zurzeit Gastdozent ist) die alte Geschichte einstudierte, werden die Aristokraten nur symbolisch exekutiert, indem man sie von Anfang an der Lächerlichkeit preisgibt. In der Rahmung dieser Inszenierung sind sie als Figuren deshalb höchstens so interessant wie die Schmetterlinge in Biederlings Sammlung.

Dabei sind es toll begabte junge Schauspieler, denen wir hier zuschauen. Timocin Ziegler und Jaela Probst spielen mit abgründigem Aberwitz das emotional und auch sonst verwahrloste Landadelspaar. Heraus sticht auch Lukas Darnstädt als Student Zierau, der mit dem fremden Prinzen eine gespreizte und toll getimte Debatte über die Wissenschaft und ihre Größen im damaligen Diskurs führt.

Nur fragt man sich beim Zuschauen immer wieder, wohin dieses jugendliche Virtuosentum führt. Geht es nicht auf die Sackgasse des Betriebes zu, wo man gerade solchen Repräsentationsformen beim Altern zusehen kann und die Theaterstile auf offener Bühne vermodern? So kamen einem am Ende nicht nur die schrillen und vampirhaft gedachten Repräsentanten der bösen und bigotten westlichen Kultur wie Wesen von gestern vor, sondern auch die Schauspielschulhonoratioren im Publikum. Denn sie fügten sich seltsam nahtlos in dieses Bild einer abgestorbenen Gesellschaft, auf die unsere Theaterleute so gerne mit den Fingern zeigen, aber kaum wahrzunehmen in der Lage sind, dass sie selbst ein Teil davon sind.

Der Dichter Lenz, dessen selten gespielte Komödie hier aufgeführt wurde, lebte auf der Schattenseite der deutschen Klassik. Statt im Weimarer Olymp zu landen, ging er mit 39 Jahren elend auf einer Moskauer Straße zugrunde und überlebte literarisch vielleicht nur, weil ihn Georg Büchner zum Protagonisten einer berühmten Erzählung machte.

Lenz’ Stück „Der neue Menoza“ kann auch als eine Art schwarze Version von Lessings 1779 entstandener Toleranzparabel „Nathan der Weise“ gelesen werden. Nur, dass sich hier keiner versöhnt oder in die Arme fällt. Bei Lenz fallen alle angesichts der Schrecknisse, die das Leben, die böse Welt, die Liebe und die Nähe geliebter und ungeliebter Menschen gleichermaßen bereithält, nur dauernd vor Überforderung in Ohnmacht. Im dritten Stock der Volksbühne ist das Theater gleich mit in Ohnmacht gefallen.

■ Wieder am 21./22.November, 20 Uhr, 3. Stock der Volksbühne