Berlin ist Sauerkraut und Tango

Zwischen Río de la Plata und Spree liegen 10.000 Kilometer. Die gefühlte Distanz ist viel geringer – jedenfalls für die Mitglieder des „Club Berlin“ von Buenos Aires. Ihre Liebe zur deutschen Hauptstadt ist unerschütterlich. Erwidert wird sie nicht immer

AUS BUENOS AIRES NINA APIN

„Hallo, Christoph!“ – „Hallo, Klaus!“ Die beiden Männer, die sich mitten auf der Straße mit Wangenkuss begrüßen, könnten deutscher nicht aussehen. Beide sind groß und blond, ein Schlaks in T-Shirt und Jeansjacke und ein Kräftiger in kariertem Hemd. Noch vor anderthalb Stunden, als sie in der Innenstadt von Buenos Aires in ihre Autos stiegen, hießen die beiden Cristóbal Zimmermann und Claudio Gaebler. Doch hier draußen, in der Gartenstadt El Palomar mit ihren gestutzten Hecken, scheint „Christoph“ und „Klaus“ angebracht.

Die Gartenkolonie wurde 1944 von deutschen Emigranten gegründet, noch heute gibt es eine deutsche Schule und Sträßchen, die nach Menschen namens Wernicke oder Huertens benannt sind. Die Leute, die sich jetzt aus den Autos schälen und zu den beiden Blonden gesellen, heißen Renate, Martin oder Inge und stellen sich erst einmal zum Gruppenbild auf. Gaebler dirigiert sie, bis der Club Berlin fast vollzählig vor dem Günter-Plüschow-Denkmal steht.

Das Foto ist der Auftakt zu einem Tagesausflug, mit dem der Club argentinischer Berlin-Enthusiasten sein dreijähriges Bestehen feiert. Für alle, die nicht wissen, wer der Herr auf der Messingtafel ist, hält Clubpräsident Gaebler einen Kurzvortrag: Plüschow, in München geborener Luftfahrtpionier, überflog 1928 als erster Mensch Feuerland in einem Wasserflugzeug und landete in Ushuaia, der südlichsten Stadt der Welt. Bei einem zweiten Ausflug 1931 stürzte er über dem Perrito-Moreno-Gletscher ab, seine sterblichen Überreste ruhen in Berlin-Lichterfelde. „Hätten Sie das gewusst?“ Gaebler freut sich, wieder mal eine Verbindung zur deutschen Hauptstadt herstellen zu können, und sei sie auch noch so klein.

Ein faustisches Gefühl

Der Anwalt ist gebürtiger Argentinier und leidenschaftlicher porteño – so werden in Argentinien die Bewohner des „Hafens“ Buenos Aires genannt. Und Gaebler ist begeisterter Berliner. „Ein faustisches Gefühl“, sagt er, zwei Herzen schlagen, ach, in seiner Brust. So wie ihm geht es auch den rund 35 Clubmitgliedern, die sich an diesem Samstag zum herzhaften Mittagessen im Restaurant Graf Zeppelin versammelt haben. Seit drei Jahren gibt es den Club Berlin, ihm gehören ausgewanderte Berliner, Kinder und Enkel von Berlinern und Argentiniern an, die sich aus den verschiedensten Gründen der Stadt an der Spree verbunden fühlen. Clubpräsident Gaebler zum Beispiel wurde „in Berlin gemacht“, wie er gerne erzählt – bevor seine Eltern die Schiffsreise nach Südamerika antraten.

Ins Internet hat er den Lebensweg seiner Großmutter gestellt, der von Berlin über Schlesien und Hamburg an den Río de la Plata führte. Und eine Chronik des Mauerfalls. Gaebler kennt die Namen sämtlicher Berliner Bären, verfolgt das Schicksal des Schlossplatzes und sammelt alles über Berlin, was ihm in die Finger kommt. In seiner Privatwohnung in Martínez, einem Vorort von Buenos Aires, hat er eine Bibliothek für den Club eingerichtet, der rund 60 feste Mitglieder, aber keinen festen Sitz hat. Symptomatisch für einen Verein, der hüben wie drüben zwischen den Stühlen sitzt.

„In Berlin bin ich eine Ausländerin“, sagt Regine Friebe und schenkt sich deutsches Bier ein. Trotzdem kann es die Ärztin, deren Eltern 1946 aus Berlin auswanderten, kaum abwarten, endlich wieder hinzufahren. „Die Spree! Eisbein mit Sauerkraut! Und die Berliner Schnauze!“ Das Wort „Schnauze“ geht ihr nur schwer über die Lippen, das Deutsch, das sie auf der Goethe-Schule in Buenos Aires gelernt hat, konkurriert täglich mit ihrer zweiten Muttersprache. Sie besucht den Club Berlin, weil sie bei den Zusammenkünften Deutsch sprechen und Gerichten wie Eisbein mit Sauerkraut frönen kann, für die sich ihr argentinischer Mann nicht begeistern mag. Drei ihrer fünf Kinder leben inzwischen in Deutschland, Friebe bleibt bei ihrem argentinischen Mann. Ein wenig abstraktes Heimweh nach der Stadt, die sie nur von Kurzbesuchen kommt, bleibt aber doch.

Der Club Berlin von Buenos Aires, der sich trifft, um deutsche Filme wie „Das Leben der Anderen“ anzusehen, Kartoffelsalat zu essen oder im Zoo die Bären Atze, Rieke und Baeroline zu füttern, die Eberhard Diepgen der Stadt 1994 als Geschenk mitbrachte, lebt von der Sehnsucht nach einer Stadt, die lebhaft und multikulturell ist wie Buenos Aires, aber weniger chaotisch: weitläufig, voller Linden, Kultur und Historie. Manche waren noch nie dort, viele sprechen besser Spanisch als Deutsch, und nur wenige merken, wie weit die Würste, die der litauische Wirt des Graf Zeppelin serviert, vom deutschen Original entfernt sind. Sie lassen sich gerne täuschen von den rotkarierten Tischdecken und der Bierhumpensammlung, die eine vage deutsche Gemütlichkeit verbreiten. Authentischer muss es gar nicht sein, ein Leben in Berlin strebt hier niemand ernsthaft an. Keiner möchte die Stadt am Río de la Plata eintauschen, schließlich sind die meisten Club-Berliner hier geboren oder schon sehr lange da.

Ludwig „Luis“ Wasserreich und seine Frau Inge wohnen schon seit über 40 Jahren in Buenos Aires. Die beiden gebürtigen Berliner lernten sich hier kennen, in ihrem zweiten Leben. Der fast 90-Jährige stammt aus einer reichen jüdischen Dahlemer Händlerfamilie. An das Sophiengymnasium und die fröhlichen Abende mit Studienkollegen in der Vineta-Bar in Halensee kann er sich noch gut erinnern. 1939 floh der junge Ingenieur mit seinen Eltern nach Bolivien, wo er Arbeit in den Minen fand. Die Familie nahm nur ein paar Reisetaschen mit, ihr gesamtes Vermögen ließ sie zurück. Eine Tante blieb in Deutschland, sie überlebte das Nazi-Regime nicht. Der alte Mann hat trotzdem seinen deutschen Pass behalten. „Auch wenn ich für die ein Scheißjude war: Deutschland ist und bleibt meine Heimat.“ Und obwohl sein Deutsch ein wenig eingerostet ist, kommt immer mal wieder ein Funken Berliner Humor durch: Zum Gulasch, das er bestellt, sagt er „Gulpopo“. Auch seine Frau hat die Berliner Schnauze nicht ganz verlernt: Als ihr Mann ihr einen deutschen Tangoschlager ins Ohr singt, winkt sie ab: „Jetzt wird er wieder romantisch, nach 60 Jahren Ehe!“

Alles außer Politik

Das Deutsch, das im Graf Zeppelin gesprochen wird, ist durchsetzt von Hispanismen. Hier wird nichts geregelt, es wird „arregliert“. Daneben ist immer mal wieder ein herzhaftes „Che!“ zu hören. Der Club Berlin umfasst sämtliche Etappen der jüngeren deutschen Immigration: Verfolgte Juden wie die Wasserreichs sitzen neben der zweiten Generation wie Friebe oder Gaebler. Dazwischen finden sich Gefühlsberliner, die gar keine deutschen Wurzeln haben, wie der argentinische Plüschow-Experte Roberto Litvachkes. Der Wissenschaftler schloss sich dem Club nach einer Berlinreise an – aus Begeisterung für die Stadt. Seine jüdischen Eltern, die seine Allianz mit den Deutschen eher skeptisch sahen, beruhigte er: „Hier geht es nicht um Politik, sondern um Freundschaft. Woher man kommt und was man spricht, ist egal.“ Politik wird am Tisch sorgsam vermieden. Statt über die Nazis oder argentinische Politik spricht man über den Mauerfall oder Knut, den Eisbären. Es ist kein Zufall, dass sich der Club kurz nach der argentinischen Wirtschaftskrise von 2001 gründete. Die Besinnung auf die europäischen Wurzeln war eine Form, mit dem Totalzusammenbruch fertigzuwerden, der das Selbstverständnis der Argentinier aufs Tiefste erschütterte. In gewisser Weise kann man den Club Berlin also zu den vielen Selbsthilfe- und Therapiegruppen zählen, die nach der Krise entstanden.

Viele Mitglieder sind stolz darauf, die deutsche Goethe-Schule besucht zu haben, „die beste deutsche Schule Lateinamerikas“, wie Gaebler betont. Er schickt auch seinen Sohn dorthin, damit er ein deutsches Abitur macht. Und um deutsches Kulturgut mitzubekommen. Der Stolz darauf, vom Volk der Dichter und Denker abzustammen, äußert sich bisweilen in Arroganz: Etwa wenn Friebe findet, dass es den Argentiniern manchmal an Kultur fehle, womit sie die vermeintlich deutschen Tugenden Manieren, Ordnung, Sauberkeit und Umweltbewusstsein meint. Der Club zehrt unterschwellig vom Gefühl seiner Mitglieder, etwas Besseres zu sein. Gleichzeitig nimmt man sich nicht so wahnsinnig ernst in seinem ganzen Deutschsein: Das zeigt schon das Logo des Vereins, ein freundlicher Berliner Bär mit einem Bandoneon, dem typischen Tangoinstrument.

Das Berlinischste an den Berlinern vom Río de la Plata ist ihre Position in der deutschen Community, die an die 900.000 Menschen deutscher Abstammung und 40.000 mit deutschem Pass umfasst. Während andere deutsche Vereine Trachtenumzüge veranstalten und sich in Zirbelstuben mit deutschen Flaggen treffen, geben sich die Berliner jung, frech und multikulturell wie die deutsche Hauptstadt: Sie treffen sich zu Tangoabenden, richten im Zoo Bärenbanketts aus oder feuern in der Bombonera die Fußballer von Boca Juniors an. Sie freuen sich über jeden, der sich für Berlin interessiert, ob Ur- oder Wunschberliner, Argentinier oder Ungar. Sie hängen keinem Deutschland nach, das es nicht mehr gibt, sie leben im Hier und Jetzt. „Wir sind eine junge Institution“, sagt Gaebler, „unsere Welt ist die nach dem Mauerfall, die der erweiterten EU, eines sich vereinenden Südamerika. Und des Internets.“

Das Herz des Vereins sind seine Website und sein Blog. Dort finden sich in bunter Mischung Fotos von gemeinsamen Ausflügen, Gedichte des Nichtberliners Wilhelm Busch und ein Loblied des Präsidenten auf die Kulturstadt Buenos Aires. Es fällt schwer zu sagen, welche Mission der Club Berlin verfolgt. Zusammenhalt in einer zunehmend fragmentierten Gesellschaft? Ein Familiengefühl in der Fremde? Ein Club, in dem man bizarren Vorlieben frönen kann wie Sauerkrautessen, Bärenfüttern oder Castorf-Inszenierungen sehen?

Der Club als Brücke

Erklärtes Vereinsziel ist es, eine Brücke zwischen beiden Städten zu bilden, die seit 1994 bestehende offizielle Städtepartnerschaft durch Freundschaften und Kontakte zu vertiefen. Tatsächlich fehlt der Club bei keiner deutsch-argentinischen Veranstaltung. Beim Besuch von Klaus Wowereit waren Gaebler und Co. ebenso dabei wie auf der aus Berlin importierten „Langen Nacht der Museen“. Jedes Jahr organisieren sie zum Jubiläum des Mauerfalls ein Gedenken an den authentischen Mauerresten im Garten des Palacio San Martín. „Der Mauerfall ist für mich eines der bewegendsten Ereignisse der Weltgeschichte“, sagt Klaus Gaebler, dessen Eltern 1952 aus Bitterfeld nach Westberlin flohen.

Oft genug herrscht aber einseitiger Verkehr auf dieser Brücke, nicht immer fühlen sich die Wahlberliner in der Partnerstadt ausreichend ernst genommen: Eine Skulptur, ein Geschenk des Clubs als Zeichen der Freundschaft, wollte in Berlin niemand annehmen. Gaebler, Präsident, Visionär und ewiger Motor des Clubs strebt trotzdem nach Höherem für den kleinen Verein: Er glaubt fest an den wichtigen Beitrag seiner Mitglieder zur Völkerfreundschaft und zum Weltfrieden. Ein deutsch-argentinisches Freundschaftsmuseum plant er, in dem Persönlichkeiten wie Plüschow, Humboldt oder die zweisprachige Berliner Tangosängerin Diana Nuñez geehrt werden sollen. Und er träumt von einem Lexikon, das die Berliner Schnauze ins Lunfardo von Buenos Aires übersetzt. Doch wenn er darüber spricht, Direktflüge zwischen beiden Städten durchsetzen oder Daniel Barenboim den Nobelpreis verschaffen zu wollen, schauen selbst seine Clubfreunde ein wenig skeptisch.

„Man muss doch träumen dürfen, auch wenn die Aussichten schlecht sind“, sagt der Berliner vom Río de La Plata trotzig. Ein Satz, den auch sein Namensvetter von der Spree sagen könnte. Wenig Geld, ausgeprägtes Selbstbewusstsein – und ein unverwechselbarer Charme. Es gibt Momente, in denen man sehr gut versteht, warum Berlin und Buenos Aires Partnerstädte sind.