Eine Stadt bekennt Farbe

Petra von Olschowski, Jahrgang 1965, Kunsthistorikerin und Journalistin, ist seit September 2010 Rektorin der Kunstakademie Stuttgart. Von 2002 bis 2010 stand sie an der Spitze der Kunststiftung Baden-Württemberg. Davor war von Olschowski Kulturredakteurin der Stuttgarter Zeitung

von Petra von Olschowski

Dass die Diskussion um das Bahnhofsprojekt S 21 die Gesellschaft in Stuttgart verändert habe, ist inzwischen so oft geschrieben und beschworen worden, dass die These selbst den genauen Blick auf die Situation verstellt. Es passt eben ins Kehrwochen-Klischee, wenn man behauptet, aus den braven Schwaben seien „Mut-“ und „Wutbürger“ geworden, die Grün statt Schwarz wählen und entdecken, dass es außerhalb des eigenen Gartenzauns eine Welt gibt, für die es sich zu kämpfen lohnt.

Es heißt, es entstehe eine neue Bürgergesellschaft, die vorbildhaft sein könne. Erstaunlich ist dabei für mich, dass mit dieser Bürgergesellschaft nur die Gegner des neuen Bahnhofs gemeint sind, nicht die Befürworter. Es scheint sich also um eine geteilte Bürgergesellschaft zu handeln, nicht um eine gemeinschaftliche, um eine richtige und eine falsche, um eine, in der der eine Teil auf der Straße agiert, der andere in den Hinterzimmern, in der aber erst miteinander geredet wird, wenn die Wasserwerfer ihren Schaden schon angerichtet haben.

Ich bin nicht sicher, ob wir tatsächlich schon eine gesellschaftliche Situation erreicht haben, in der der Bürger erkannt hat, dass er es sein müsste, der darüber entscheidet, wie unsere Welt aussieht.

Vergisst man das Bild der Mut-Wut-Bürger und betrachtet die Entwicklungen der letzten Zeit, die sich in Wahrheit nicht ganz so simpel gestalten, wie oben beschrieben, dann gibt vor allem ein Detail Grund zu der Hoffnung, in Stuttgart sei wirklich etwas in Bewegung geraten. Insbesondere im Widerstand gegen S 21 (und darin unterscheidet er sich fundamental von den Befürwortern) zeigt sich nicht nur politisches Interesse, sondern – und das ist neu – ein großes kreatives Potenzial. Damit meine ich nur zum Teil die zahlreichen, oft originellen Ausdrucksformen, mit denen Meinung kundgetan wird auf klassischen Medien wie Plakaten, T-Shirts, in Songs, Texten, Büchern und vielem mehr. Laufend entstehen neue Motive, Slogans, Formen. Gruppen aus Künstlern, Musikern, Theaterleuten und Menschen, die mit öffentlichen Aktionen bisher wenig zu tun hatten, bilden sich. Zeitungen entstehen, neu gebildete, unabhängige Fernsehteams sind unterwegs und erproben andere Formate, Internetforen werden eingesetzt. Mit dem „Schwabenstreich“ wurde die vermutlich weltweit größte tägliche Performance-Aktion ins Leben gerufen, an der sich monatelang Tausende von Bürgern beteiligten. Eine Stadt wird zur Bühne und bekennt im wahrsten Sinn des Wortes Farbe: tönt, singt, klingt, dichtet – lebt!

Das alles ist Ausdruck einer neuen Haltung. Auslöser für viele dieser neuen Formen ist der Impuls, die Dinge und Entscheidungen, die vielen bisher eindeutig und klar erschienen, einmal anders zu sehen, spielerisch zu verändern, auf den Kopf zu stellen, von hinten zu lesen, neu zu denken. Das ist die große Chance, die in diesem Widerstand liegt. Es sind diese wachen Köpfe (die ja nicht einfach sagen, nichts soll sich ändern), die Modelle entwickeln, die für die Zukunft dieser Stadt und anderer Städte von Bedeutung sein können. Dabei spielen Themen wie veränderte Wohn-, Lebens-, Familienkonzepte, Umweltschutz, Stadt- und Verkehrsplanung eine große Rolle, aber auch künstlerische Fragen im Kontext von öffentlichem Raum und kulturellen wie sozialen Strukturen.

Würde man also diese Kraft des Infragestellens und die Dynamik, die im Schaffen von zum Teil utopischen Konzepten liegt, als die eigentliche Innovation und als urbane Qualität begreifen, wäre der erste Schritt in Richtung einer lebendigen Bürgergesellschaft getan. Einer Gesellschaft, die sich als gemeinschaftlich, informiert, wach, offen und tolerant versteht. Der es darum geht, es nicht den Berufspolitikern und den Wirtschaftsmanagern zu überlassen, wo diese Stadt in zwanzig Jahren steht. Die Frage, wie viele Züge in wie vielen Minuten durch einen Bahnhof rasen, ist wichtig für Bahningenieure. Nicht für die Bürger als Architekten der Zukunft.