ortstermin
: Ernste Musik, völlig abgehoben

In der Reihe „Ortstermin“ besuchen Autoren der taz nord ausgewählte Schauplätze am Rande des Nachrichtenstroms

Das Streichquartett fliegt kilometerweit von seinen Zuhörern entfernt in Kreisen über dem Erdboden und ist trotzdem näher an ihnen dran als im Konzertsaal: Kameras filmen die Musiker beim Spielen, und das Publikum kann auf vier großen Leinwänden aus nächster Nähe ihre konzentrierten, ernsten Gesichter beobachten. Mikrofone und Lautsprecher bringen die Musik zum Publikum.

Die Musiker sitzen in vier Hubschraubern, in denen es heiß und zum Spielen zu eng ist und hören statt ihrer Mitspieler über die Kopfhörer eine Stimme, die ihnen die Schläge des Taktes vorzählt. Sie müssen zugleich spielen und sprechen. „Drrrrei!“, ruft Cellist Karl Huros mit rollendem R. „A-a-acht“, beinahe wehklagend, ruft die zweite Geigerin Luciana Duta. „Eins!!!“, steuert der erste Geiger Johannes Denhoff bei.

Am vergangenen Sonntag wurde in Braunschweig zum ersten Mal in Deutschland das Helikopter-Streichquartett aufgeführt, das Karlheinz Stockhausen in den 1990er Jahren als Teil seines Zyklus’ LICHT komponierte. Stockhausen erregte nach dem 11. September 2001 die Gemüter, indem er die Terrorangriffe als das „größte Kunstwerk aller Zeiten“ bezeichnete. Sein Helikopter-Streichquartett vereint Streicherklänge, Stimmen und Hubschraubergeräusche zu einem Musikstück.

Das Startsignal ist der Moment, in dem die Seitenwand der Motorflughalle 1 des Braunschweiger Flughafens aufgefahren wird. Plötzlich durchflutet Sonnenlicht die große Halle, das Dröhnen der Hubschraubermotoren schwillt langsam an. Die Musiker schreiten über das Rollfeld und steigen zu ihren Tontechnikern in die Helikopter. Als erster beginnt Cellist Huros zu spielen, und das Publikum sieht, wie sein Hubschrauber im selben Moment abhebt. Nacheinander entschwinden Bratsche, zweite und erste Geige in den Himmel über Braunschweig. „Natürlich hat das Konzert auch Event-Charakter“, sagt Geiger Denhoff später. Vor der Flughalle verkaufen Imbissstände Bier und Rostbratwurst, und einige Zuschauer unterhalten sich auch während des Konzertes, bei dem die Musiker schließlich nur virtuell anwesend sind.

Die Hubschrauber fliegen von der Halle weg und mit ihnen verschwindet auch der Lärm der Motoren. Traditionelle Melodien oder Harmonien gibt es nicht, aber ein Klangerlebnis, für das sich die Klänge von Streichern und Hubschrauberrotoren und die Zahlen, die die Musiker rufen, mischen. Das Geräusch der sich drehenden Rotorblätter unterlegt das Tremolo, das die Streicher meistens spielen: eine dichte Tondecke aus kurzen, schnellen Tönen, bei der ein Musiker bald jeden Muskel in seinen Armen spürt. „Ich muss meine Kräfte dosieren wie ein Marathonläufer“, sagt der Geiger Denhoff.

Das Konzert ist ein Teil der Braunschweiger Festlichen Tage Neuer Musik. Weil Braunschweig in diesem Jahr die deutsche Stadt der Wissenschaft ist, wurde extra die Terminplanung umgeworfen: Auf „Musik und Müll“ muss das Publikum noch bis zum Jahr 2010 warten, damit in diesem Jahr die Festlichen Tage unter dem Motto „Musik und Maschine“ stehen können. Das erzählt der Direktor des Braunschweiger Staatsorchesters, Martin Weller, in seiner Konzerteinführung.

Weller schlägt den Bogen von Seneca über Kant zu Turnvater Jahn, um dem Publikum das Thema des Nachmittags – das Leben in einer mechanisierten Welt – nahe zu bringen. Wer 35 Euro für eine Karte bezahlt und sich auf den Weg zum Flughafen gemacht hat, bringt dem Konzert vermutlich Wohlwollen entgegen. Im Rest der Stadt hat die Veranstaltung mit einem Etat von 130.000 Euro allerdings hitzige Diskussionen ausgelöst: „zu teuer“, „zu abgedreht“, „unnötige Umweltverschmutzung“. Die Stimmung in der Halle ist von den Diskussionen aber ungetrübt: Der Pilot Björn Hüdepohl ist einer der wenigen, für die es „ein Flug wie jeder andere“ ist. Denhoff erzählt von der „Adrenalin-Ausnahmesituation“ im Hubschrauber, und die Zuhörer finden das Konzert „fantastisch“ und „außergewöhnlich“. Auch Zuhörer Matthias Kurth genießt das Konzert: „Weil man das nicht jeden Tag erlebt.“ KARIN CHRISTMANN