Einwanderung nach Punkten

Sollte sich Deutschland im „Wettbewerb um die besten Köpfe“ an den USA orientieren? Wer eine solche Migrationspolitik fordert, sollte Nebenwirkungen nicht verschweigen

Gewerkschafter wie Arbeitgeber stoßen ins gleiche Horn, um für eine liberalere Einwanderung zu werben Machen es die USA also richtig? Sie zeigen zumindest Vorteile und Nachteile dieser Zuwanderungspolitik

Wenn Gewerkschafter und die Fürsprecher offener Grenzen in Europa auf einmal die Arbeitgeberverbände auf ihrer Seite haben, dann ist Vorsicht angebracht. Und wenn Innenminister Wolfgang Schäuble auf dem Kirchentag plötzlich von „der einen Welt“ schwärmt, dann ist es Zeit, hellhörig zu werden. Es geht um die Einwanderungspolitik und um den viel beschworenen „Wettbewerb um die besten Köpfe“, in dem Deutschland angeblich zu kurz kommt. Arbeitgeber beschwören einen dramatischen Mangel an gut ausgebildeten Fachkräften. Innenminister Schäuble dagegen hält es für unfair gegenüber dem Rest der Welt, wenn wir uns die besten Köpfe aussuchen würden.

Natürlich geht es Schäuble nur darum, wie gehabt die geschlossenen Tore der Festung Europa zu verteidigen. Aber seine Argumentation ist gleichwohl bedenkenswert. Denn wenn der Mangel an Fachkräften schon hierzulande als Problem gesehen wird – um wie viel schwerwiegender muss die Lage erst in ärmeren Ländern mit weniger guten Bildungssystemen sein? Das Schreckenswort lautet „Brain Drain“ – die Abwanderung qualifizierter Arbeitskräfte zumeist aus Ländern, die diese dringend nötig hätten. Während in der Entwicklungspolitik gerade diskutiert wird, wie man teuer ausgebildete Ärzte und Ingenieure aus dem Süden dazu bringen kann, nicht dem Ruf des Geldes in den Norden zu folgen, will die hiesige Wirtschaft genau das Gegenteil erreichen.

Und nicht nur sie. In vielen politischen Lagern gilt beispielsweise ein Punktesystem als progressiv, das die Einwanderung qualifizierter Arbeitnehmer erleichtern soll. Kein Wunder: Alles, was die geschlossenen Grenzen auch nur einen Spalt weit öffnet, erscheint als Fortschritt gegenüber der jetzigen, festgefahrenen Situation. Das ist es vermutlich, was sogar den Deutschen Gewerkschaftsbund dazu treibt, beim „Wettbewerb um die besten Köpfe“ ins Horn der Arbeitgeber zu blasen.

Derweil bleiben Massen von bestens ausgebildeten Frauen aus dem Arbeitsmarkt ausgeschlossen, weil die Familienpolitik es so will. Scharen von erfahrenen Arbeitnehmern hangeln sich von Hartz IV zur Frühverrentung, weil die deutschen Arbeitgeber in ihrem übersteigerten Jugendwahn gerade in (informations-)technischen Berufen keinem über 30 trauen. Und statt hierzulande jedem Jugendlichen einen Ausbildungsplatz zu geben, vielleicht auch denen ohne deutschen Pass, jammert die Wirtschaft lieber fatalistisch über die mangelhafte Ausbildung der Bewerber. Jetzt sollen es also die Hochqualifizierten aus dem Ausland richten. Die, so die Hoffnung, sind mit vergleichsweise bescheidenen Gehältern zufrieden, mucken nicht auf und gehen, wenn sie nicht mehr gebraucht werden, brav in ihre Heimatländer zurück. Integrationsangebote werden deshalb gar nicht erst diskutiert: Die „Gastarbeiter“ lassen grüßen.

Interessanterweise wird derzeit auch in den USA, dem Musterbeispiel eines Einwandererlandes, mal wieder über Immigration debattiert. Gerade hat der Senat eine Reform des Einwanderungsgesetzes platzen lassen, die vielen Immigranten ohne Papiere eine Legalisierung ihres Status ermöglicht hätte. Doch warum wohl war es ausgerechnet Unternehmerfreund George Bush, der selten mit sozial progressiven Ideen aufgefallen ist, der diese Reform gepusht hat? Natürlich geht es auch ihm in erster Linie darum, die Grenzen noch besser abzuschotten.

In Fragen der Einwanderung können die USA viel gutes Anschauungsmaterial liefern. So wird die Integration aller Einwanderer, etwa in das Schulsystem, dort unendlich viel besser gelöst als hierzulande. Aber die USA ziehen eben nicht nur exzellent ausgebildete Akademiker an. Sondern auch viele ungelernte Migranten, die oft unter Lebensgefahr mit Hilfe von Schleppern ins Land gebracht werden. Sobald sie einmal da sind, geht es ihnen allerdings oft besser als ihren Kollegen in Europa: Sie können ihre Kinder in die Schule schicken, und im Notfall werden sie kostenlos in Krankenhäusern behandelt. Die Gefahr, aufgegriffen und zurückgeschickt zu werden, ist gering.

Diese relative Großzügigkeit lässt sich leicht erklären: Die Arbeitgeber der USA, Unternehmen wie Privathaushalte, wissen die billigen und extrem anpassungswilligen Arbeitskräfte sehr zu schätzen. Man findet sie deshalb überall in der Landwirtschaft, in Lebensmittelmärkten und Gaststätten; sie arbeiten als Kindermädchen und Gärtner, Bauarbeiter und Handwerker und nicht zuletzt in Sweatshops, die mit den übelsten Ausbeuterfabriken in Guatemala oder Bangladesch mithalten können. So tragen sie dazu bei, die Preise für viele Produkte und Dienstleistungen erschwinglich zu halten. Aber ist so eine Politik progressiv? Oder nicht vielmehr die blanke Ausbeutung? Die US-Gewerkschaften jedenfalls, die lange die Migranten als Billiglohn-Konkurrenz für heimische Arbeiter bekämpft haben, haben sich zum gemeinsamen Kampf gegen die Ausbeutung aller Arbeiter entschieden, egal woher.

Was den Kampf um die besten Köpfe angeht, haben die USA schon lange das umgesetzt, was hierzulande gefordert wird. Sie locken mit langfristigen Aufenthaltsgenehmigungen, hohen Gehältern und besten Aufstiegsmöglichkeiten. Ein indischer Freund, der als Kommunikationswissenschaftler in den USA arbeitete, lachte sich kringelig, als er von der deutschen Green-Card-Initiative der rot-grünen Regierung erfuhr: Was glaubt dieser Schröder eigentlich? Für das halbe Geld wie in den USA soll ich auch noch Deutsch lernen, mich mit Regen, Schnee und Neonazis abgeben? Die Initiative blieb ein Flop.

In den USA dagegen stellen Einwanderer in den Forschungsabteilungen der Universitäten und Konzerne so langsam eine Mehrheit. Nobelpreise und Patente gehen an die USA, auch wenn dahinter oft gar keine (gebürtigen) US-Amerikaner stehen. Machen es die USA also richtig? Bejahen kann diese Frage wohl nur, wer es politisch vertretbar findet, dass sich ein reiches Land einfach nach Belieben bei den besten Köpfen der ganzen Welt bedient. Und wem es egal ist, dass die Schulen und die – gerade noch erschwinglichen – öffentlichen Universitäten so langsam verkommen. Große Teile der inländischen Bevölkerung, vor allem die Afroamerikaner, bleiben deshalb von Bildung und Berufschancen ausgeschlossen. Ein duales Ausbildungssystem gibt es in den USA nicht, das braucht die Wirtschaft ja nicht.

Wer in Deutschland eine solche Einwanderungspolitik propagiert, sollte Risiken und Nebenwirkungen nicht verschweigen: Sie fördert den Brain Drain aus ärmeren Ländern, die Ausbeutung der Migranten – gerade ohne gesetzlichen Mindestlohn – sowie die Vernachlässigung des vorhandenen „Humankapitals“, von Frauen und älteren Arbeitnehmern bis hin zu den Unterschichtenkids, mit und ohne Migrationshintergrund.

Erst wer einen guten Plan hat, wie diese Probleme zu lösen sind, sollte sich überlegen, wie sich Deutschland im Wettbewerb um die besten Köpfe positioniert. NICOLA LIEBERT