Bloß nicht Fischstäbchen sein!

31. Evangelischer Kirchentag, diesmal im erzkatholischen Köln: Die Siegerinnen waren die Frauen. Kanzlerin Angela Merkel und Bischöfin Margot Kässmann begeisterten die Kirchentagsbesucher mit ihren Reden

„Die Schöpfung steht auf dem Spiel – keine Börsenbilanzen, sondern das Leben von Menschen, Tieren und Pflanzen. Da muss der Hintern hoch.“Pfarrerin Mechthild Werner

„Wir können unmöglich Afrika mit unserer europäischen Erfahrung etwas aufdrängen.“Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU)

„Es wird immer noch von oben nach unten geschaut.“Bundespräsident Horst Köhler

„Gemessen am Widerstand, der bisher globale Gespräche über das Klima in den letzten Jahren nach dem Kioto-Protokoll geprägt hat, sind wir einen deutlichen Schritt weitergekommen.“Richard von Weizsäcker zum G-8-Gipfel

AUS KÖLN JAN FEDDERSEN

Sonnabend zur Mittagszeit war die Kirchentagswelt plötzlich eine andere. Eine Halle musste gesperrt werden! OrdnerInnen hielten Menschen davon ab, so frei auf dem Messegelände zu wandeln wie in den Tagen zuvor. Eine Frau war es, die der 31. Auflage dieses nachkriegsdeutschen Festivals an evangelischer Christengeselligkeit einen anderen Drall gab, eine Spur von Relevanz verlieh vielleicht sogar.

Angela Merkel, die Kanzlerin, eingeflogen wie eine Kundschafterin aus Heiligendamm, war geladen – und als gute Tochter einer protestantischen DDR-Familie wollte sie nach dem G-8-Gipfel natürlich nicht ins Wochenende, sondern „ein Stück weit berichten von dem“, was so los war mitten unter den Mächtigen, wie Moderator Wolf von Lojewski sagte. Plötzlich war erkennbar, dass dieser Talk der eigentliche Event des Kirchentags war – denn schon zur ersten Minute der Diskussion mit der Kanzlerin war die Halle prall gefüllt, auch in den Seitenflügeln war kein Durchkommen – obendrein war es still und konzentriert, kein Murmeln mehr: Man wollte ihr zuhören.

Und wie! Und was für ein Unterschied zu ihren Amtsvorgängern. Helmut Kohl – der evangelische Kirchentage mied, Missfallen wollte er sich nicht abholen; Gerhard Schröder – hatte ebenfalls nie so recht Lust, sich auf den Sound der protestantischen Christen einzulassen. Der eine hatte keine Lust, die Nachrüstung zu verteidigen, der andere nicht Hartz IV – Kirchentage als Claque sind undenkbar, und beide, Kohl wie Schröder, mochten sich nicht zurechtweisen lassen. Angela Merkel aber? Setzte sich hin, traf den richtigen Ton, streute hier ein „ein Stück weit“, „natürlich in der Sache gebe ich Ihnen recht“ und „mehr wäre mir auch lieber gewesen“ ein. Nahm Einwände, ließ sich scharf kritisieren („Nichts für Afrika ist rausgekommen“, „die Armen sind weiter ausgeliefert“, „das Klima stirbt weiter“, klagende O-Töne aus dem Publikum). Aber Angela Merkel parierte sie alle nicht nur, sie gab ihnen immer ein wenig recht.

Die klügeren Politiker haben dies auf Kirchentagen ja immer beherzigt: dem Publikum nie das Recht auf Unmut abzusprechen. Richard von Weizsäcker war der letzte gelittene Christdemokrat auf Kirchentagen – Angela Merkel ist seine Nachfolgerin in Sorgenversteherei. Das muss insofern aus Köln überliefert werden, dass sie nämlich den Klangrahmen einhielt – demütig in der Rhetorik, grüblerisch in der Pose, locker wie auf Augenhöhe mit dem Publikum am Mikrofon. Niemals hochfahrend, nicht fälschlich unterwürfig: Die Kanzlerin wusste ja, dass in evangelischen Zirkeln die Leidenschaft für die Forderung nach einer ganz anderen, natürlich besseren Welt stetig lodert – aber am Ende, als sei es ein Gesetz, gewinnt die Einsicht, dass ein Schritt auf dem Weg besser ist, als kein Stück geschafft zu haben.

Knackigen Stoff, Nachrichtenfutter gab das natürlich nicht her. Notiert werden muss auf jeden Fall, dass die Kanzlerin mit prasselndem Applaus vom Kirchentag verabschiedet wurde – wie ja später auch Bundespräsident Horst Köhler, der nicht minder den Eindruck zu erwecken vermag, ein Ohr für die allerdrängendsten Sorgen der Welt, auch der Kirchentagswelt, zu haben. Erstaunlich nur dies: Der Vizekanzler, Franz Müntefering, hatte Autogramme von eher kärglicher Zahl zu geben. Vier auf Stelzen staksende Clownsfiguren, auf deren Kostümen „Armut“, „Hartz IV“, „Arbeitslosigkeit“ und „Ausgegrenzt“ stand, suchten ihn zu bedrängen – und wurden zur Seite geschoben. Insofern ist dies die einzig politische Nachricht vom Kirchentag in Köln: Die Herzen haben zwei CDU-PolitikerInnen erreicht, ihre Auftritte waren makellos dem Ereignis angemessen – dem Seufzen der Kreaturen auf diesem Christenfestival ein irgendwie mitfühlendes Echo zu geben.

Und welch Seufzen. In Hülle und Fülle. Nichts, was auf diesem Kirchentag – wie auf allen anderen zuvor ja auch – nicht einen Platz gehabt hätte als Sorge, als Kummer oder als Anliegen vom Rang des Gerechten. Der sogenannte Markt der Möglichkeiten war da einmal ein perfekter Spiegel. Nichtchristlich interessierte Menschen müssen sich diesen vorstellen als einen Budenzauber, von der Familienkuschelecke über die Christen in Ostpreußen, Brot für die Welt, eine Initiative für Wasserpumpen in Afrika, die Linkspartei oder die CSU, auch Homosexuelle und Kirche wie die Werkstätten für behinderte Menschen, alles, wirklich alles, was sich regt im Hilfe-und Sozialsektor, in den Tiefen und Untiefen der gesellschaftlichen Rührung, hat dort ein Forum. Nimmt man alles zusammen, was dort als Anliegen zueinandergepackt wird, und würde dies auch noch weltlich wahr, wäre es das Paradies. Da dieses aber niemals irdisch sein wird, braucht es Engagement, christliche Tätigkeit eben, wie eine junge Frau auf dem CSU-Stand aufrichtig sagte. Eine tapfer gestimmte Erklärung, denn der Stand mit all den Bayernkurier-Exemplaren blieb doch weitgehend missachtet – und der christsoziale Stand lag nicht einmal am Rande der Markthallen im Souterrain.

Die Losung jedenfalls kam gut an. Natürlich war der Kirchentag einmal mehr ein Heer von jugendlichen Schwärmern, Studierenden, Pubertierenden, Handwerk lernenden, die, wie Soziologen sagen, einmal unsere Elite verkörpern werden: Hier auf dem Kirchentag in Köln waren sie ganz bei sich. Rucksäcke trugen fast alle, apfelsinenfarbene Halsbänder, singend in Gospelchören, musizierend mit Posaunen und Trommeln. Der beliebteste Button zeigte einen stilisierten Fisch, darauf der Spruch „Gräte sein“, bloß kein Fischstäbchen, so möchte es gedeutet werden, kein Formfleisch ohne Rückgrat, sondern der Stachel, der löckt und der „den Herrschenden im Halse stecken bleibt“, wie ein Pastor aus dem Nordfriesischen nach einer Bibelstunde frohlockte, auf keinen Fall genießbar sein, ein Haken im gewöhnlichen Gang der Dinge.

Fragen, ob dieser Kirchentag nun politisch sei wie immer oder doch frömmelnder, verbieten sich ohnehin, hat man einen einmal ernsthaft besucht. Ja, es gibt schlechte Chöre, möchte man resümieren, jawoll, stille, aber frohe Laune kann auf die Nerven gehen, ein Sehnen nach urbaner Rotzigkeit stellt sich gern und leicht ein, aber diese Menschen, immerhin 150.000, die eine Dauerkarte oder ein Tagesticket lösten, waren doch friedlich bis freaklich: Das macht vielleicht leicht irre, weil es an Reibeflächen fehlt, aber es lässt sich aushalten – das echte Leben war ja Sonntag beim Open-Air-Schlussgottesdienst auf den Poller Wiesen am Rhein schon wieder in Fühlweite. Klar, man darf Ideen wie das „Erzähl-Zelt“, die „Nahrungs-Jurte“ oder das tatsächlich ökoorientierte Nahrungskonzept – kein McDonald’s – für überkonsequent halten: Doch es funktionierte. Es lag wirklich so gut wie kein Müll in den Ecken oder auf den Plätzen zwischen den Hallen.

Und natürlich wurde auch gestritten. Auffällig, wie engagiert Wolfgang Huber, Vorsitzender der Evangelischen Kirchen Deutschlands, in einer Diskussion mit muslimischen Funktionären mit der gutmenschigen Allesversteherei aufräumte und fragte, wie es denn der Islam halte mit den Frauen in der Kirche und weshalb sie denn von der Rangordnung her hinter den Männern säßen. Donnernder Applaus vom Publikum für ihn, der es sonst selten schafft, ein Auditorium hinzureißen. Auch in multikultureller Hinsicht klärte sich ein neuer Ton heraus, so schien es: Man will mit allen zusammenleben – aber nicht fraglos, nicht nur deshalb, weil andere sich auch als religiös verstehen. Selten hat man einen führenden Bischof, der deutschen Protestanten so mutig das Recht auf Religion wie das der Freiheit von Religion beteuern hören.

Bischöfin Margot Kässmann verdient neben Angela Merkel den Kredit, im Grunde der zweite weibliche Star – und männliche gab es im Vergleich mit ihnen keine – des Events gewesen zu sein. Was hat man gemurmelt im Vorfeld. Dass sie an Rang verloren habe, seit ihre anstehende Scheidung bekannt wurde. Nichts davon – ihre Bekenntnisse aus privaten Höllen, neben ihrer gestorbenen Liebe ja auch ihre Krebserkrankung, brachten sie dem Publikum noch näher. Autogramme von ihr waren begehrt! Sie war es im Übrigen auch, die sich offensiv mit der Oberfläche des Religionshaften auseinandersetzte. Sie sei, bekannte sie, natürlich neidisch auf des Papstes knallrote Schuhe, die er tragen dürfe, ohne den Anstand zu verletzen. Was sie gemeint haben mochte, war ja allen Evangelischen in Köln sehr bewusst geworden: Diese erzkatholische Stadt am Rheinland bleibt auch beim Einfall von Millionen Protestanten eine dem Vatikan verbundene. Die Schar der 150.000 Evangelen ging schlicht unter zwischen all den katholischen Gotteshäusern. Der CSD und seine BesucherInnen markieren Köln sichtbarer als die Scharen der Kirchentagsbesucher. Was Margot Kässmann also gemeint hat, dass vermutlich alle fühlten, ein Kirchentag verhalte sich zum Weltjugendtag neulich an gleicher Stelle wie ein Offener Kanal zu Viva, wie RTL zu einem dritten ARD-Programm, das griff sie erfrischend deutlich auf: „Wir sind wir.“ Eine Konfession, die mehr auf Innerliches setzt, auf Inhalte, auf das Ganze im Weltlichen – nicht auf den Ritus an sich.

Und das mag auch als Differenz zum Geschehen in Heiligendamm genommen werden: In Köln hatte man keinen Grönemeyer, keinen Geldof, keine Autonomen und keine Zäune, an denen die sich hätten die Zähne ausbeißen können. Es wirkte lahmer als an der Ostsee. Nachhaltiger dann aber irgendwie doch: „Wir haben den Weckruf der Welt gehört“, so teilte eine Besucherin des Angela-Merkel-Sprechkonzerts mit, „und wir wissen noch nicht, ob sie auf unserer Seite ist.“