Alter Meister im Wasser

Der Kölner Kunstspringer Heinz Weisbarth kämpft auch im Rentenalter um Weltmeistertitel. Die olympischen Spiele in den 50er Jahren verpasste er nur aus Mangel an Zeit und Geld

Täglich, selbst sonntags, feilt er an der „Ästhetik seiner Sprünge“ „Wenn ich auf den Turm hoch geführt werden muss, dann höre ich auf“

AUS KÖLN ANGELIKA STAUB

Dem kraftvollen Absprung folgt ein anderthalbfacher Salto vorwärts mit ganzer Schraube. Heinz Weisbarth durchbricht die glatte Wasseroberfläche. Wasserspritzer Fehlanzeige. Der Kölner ist ein wahrer Meister, ein Weltmeister – in der „Altersklasse 70 bis 74“. Der Chlorgeruch und die schwüle Luft macht ihm nichts aus. Schwungvoll klettert der 72-Jährige aus dem Sprungbecken und beginnt zu erzählen. Etwa von den Olympischen Spielen in „Helsinki 1952 oder Melbourne 1956“, an denen Weisbarth als junger Sportler hätte teilnehmen können. Doch damals fehlte ihm Zeit und Geld: „Ich hatte zu viel in meinem Beruf zu tun“, erklärt der ehemalige Masseur – bereut habe er es trotzdem nicht.

1957 gewann Weisbarth erstmals die deutsche Meisterschaft. Fast ein halbes Jahrhundert bereiste er in seiner Freizeit auf eigene Kosten die ganze Welt, auf dem Weg zu seinem größten Triumph: Weltmeister vom Dreimeter-Brett 2006. Ein teures Vergnügen. Wie teuer? „Zu teuer“. Wasserspringen zähle nach wie vor zu den Randsportarten. „Dass wir das Wasser nicht auch noch selbst mitbringen müssen, ist alles.“ Ließe sich die Zeit zurückspulen, würde Weisbarth „eine andere Sportart wählen. Eine, von der man leben kann. Golf oder Tennis.“

Stattdessen trainiert der 72-Jährige weiter die brotlose Kunst. Täglich, selbst sonntags, feilt er nach wie vor an der „Ästhetik seiner Sprünge“ – pro Schwimmbadbesuch erklimmt er etwa 40mal das Dreimeter-Brett oder den Zehnmeter-Turm. Danach ruft meistens noch der Kraftraum, wenigstens für ein halbes Stündchen. Denn ohne trainierte Muskeln könne man dem starken Druck beim Eintauchen nicht standhalten. „Da ist der Arm schnell ab“, erzählt der Weltmeister und deutet auf eine Narbe am Oberarm. Da sei ihm kürzlich eine Sehne abgerissen.

„Doch eigentlich bin ich noch gut in Schuss“, meint Weisbarth, breitet sein Badetuch auf dem gefliesten Schwimmbadboden aus. Schon liegt er rücklings unten, zieht abwechselnd mal das linke, mal das rechte Knie durchgestreckt zur Nase. „Das können Sie auch mal probieren“, sagt der Sportler, steht wieder auf und plaudert von vergangenen Zeiten, von den ersten Schwimmzügen im Rhein. Er nimmt Platz auf einem weißen Plastikstuhl.

Die Anzeigentafel in der Schwimmhalle zeigt elf Uhr. Weisbarths Training hat wie jeden Morgen schon früh begonnen. Am Frühstückstisch mit „Zehen strecken wie eine Ballerina“. Das gibt im Wettkampf gute Haltungsnoten. Dabei immer schön die Beine geschlossen halten, kein Blatt Papier darf mehr durchpassen.

Welch ein Zufall: Auch die kleinen Poller auf den Rheinkähnen – Weisbarths erste „Sprungbretter“ – erlaubten keinen breitbeinigen Absprung. Mit Hilfe der Strömung ließ sich der junge Kölner damals auf schwer beladene, rheinaufwärts fahrende Schiffe spülen. Noch bevor der Kapitän reagieren konnte, stand Weisbarth schon zum Absprung bereit. Manchmal habe die Mannschaft aber mit Teer nach ihm geworfen, erzählt er, oder habe sämtliche Poller schon im Voraus mit der schwarzen, klebrigen Masse eingeschmiert. Weisbarth war nicht der einzige, der sich diesen riskanten Spaß erlaubte. Aber nur wenige seiner Sportskameraden wechselten danach auf die Sprungbretter und -türme der Welt, schon gleich gar nicht zur Jagd auf Medaillen.

Wenn es beim „Wer springt am schönsten?“ um Punkte und Pokale geht, dann wird Weisbarth nach wie vor ziemlich nervös. „Es ist, als stünde meine erste Freundin dort unten“, erklärt der amtierende Weltmeister und springt von seinem Stuhl auf. Die Wasserperlen laufen munter an ihm herunter, während er den zitternden Springer an der Kante mimt. Selbst die Trainer im Schwimmleistungszentrum Köln-Müngersdorf, die er nach wie vor an drei Tagen in der Woche aufsucht, können ihm dabei nicht helfen.

Immerhin hatte Heinz Weisbarth sein Wettkampffieber im vergangenen Sommer nach fast 50 Jahren im Griff und ließ die sechsköpfige Konkurrenz aus aller Welt richtig alt aussehen. In San Francisco mit dem Weltmeistertitel ausgezeichnet, steht der 72-Jährige nun am vorläufigen Höhepunkt seiner sportlichen Karriere. „Auch meine Tochter ist sehr stolz auf mich“, berichtet der Witwer freudestrahlend.

Weisbarth ist bescheiden geblieben. Ungern redet er über die bewundernden Blicke der anderen Badegäste: Was er mache, das sei doch lediglich der Abklatsch des heutigen, viel athletischeren Springens. „Die Elite trainiert bis zu sechs Stunden täglich plus Krafttraining und und und“, sagt der Weltmeister und zieht vorm fleißigen Nachwuchs den Hut. „Ich sehe doch, welch enorme Leistung sie vollbringen.“ Als riskant bewertet er jedoch, dass viele Hochleistungssportler ihre Berufsausbildung vernachlässigen und sich zu sehr dem Sport widmen. „Wenn alles klappt, ist es sicherlich schön, ein großes Boot zu fahren.“ Doch, wenn nicht?

In trainingsfreien Stunden ruht Weisbarth aus, geht spazieren oder liest Tageszeitung. „Ich bin ein totaler Einzelgänger“, sagt der durchtrainierte Senior in dunkelblauer Badehose. Die Wehwehchen seiner Altersgenossen möchte er meistens gar nicht hören. „Oft sind sie zu faul. Dabei muss man den Körper nur richtig fordern, dann kommt Wunderbares zurück.“ Der weltmeisterliche Tipp: Nicht rauchen, genug schlafen und keinen Alkohol trinken.

Zweifelsohne verbringt Weisbarth die meiste Zeit im Schwimmbad, was Zuhause schon mal zu Irritationen führt: „Erst kürzlich dachte der Ableser, mit meiner Wasseruhr stimmt was nicht.“ Wenn alles gut geht, möchte der 72-jährige Weltmeister noch weitere fünf bis sechs Jahre springen. „Es ist einfach ein erhabenes Gefühl, das Wasser zu sehen und dann sicher einzutauchen“, schwärmt er. „Doch wenn ich hoch geführt werden muss, dann höre ich auf.“

Noch aber ist es nicht so weit und der Terminkalender voll: Im Juni deutsche Meisterschaft in Regensburg, dann Europameisterschaft in Slowenien, nächstes Jahr WM in Australien. Aber was, wenn „die Knochen nicht mehr mitmachen“? „Dann wird es furchtbar“, sagt Weisbarth und eilt schnell zum Zehnmeter-Turm, für ein weiteres Kunststück in „herrlicher Schwerelosigkeit“. Kopfsprung rückwärts, diesmal gehechtet.