Moderne Schülerlotsen

Im Rahmen des Projekts „Fit für Bildung – fit für bürgerschaftliches Engagement“ helfen Studenten jungen Spätaussiedlern bei der Vorbereitung auf Schulprüfungen und der Wahl des richtigen Berufs

Das Lernen fällt den Spätaussiedlern leicht – das Problem sind die Deutschkenntnisse

VON VERA BLOCK

Olga und Inna sitzen vor einem Stapel dicht beschriebener Blätter und lesen abwechselnd die Zeilen ab. Die Stimmen sind zaghaft, die schwierigen Worte rollen nicht so recht von der Zunge, ungewöhnliche Betonungen lassen sich einfach nicht merken. Das „Hi-E-Fau“-Virus ist das Thema des anstehenden Referats. „HIV“, korrigiert sich Inna. Sie und ihre Freundin Olga sind 17 Jahre alt und bereiten sich auf die letzte Abschlussprüfung in der Realschule vor. Biologie als Leistungsfach haben sie selbst ausgesucht. Sie hätten auch Russisch wählen können – an ihrer Marzahner Schule mit gut 50 Prozent Jugendlichen aus den ehemaligen GUS-Ländern wäre das kein Problem gewesen – aber: „Es wäre zu einfach“, sagt Olga „und schlecht für weitere Bewerbungen.“

Olga stammt aus einem kleinen sibirischen Dorf, Inna kommt aus Kasachstan. Vor zwei Jahren siedelten die beiden mit den Eltern nach Deutschland über, besuchten ein Jahr lang eine Förderklasse und wechselten, sobald es ging, in eine „normale“ Schule, um den Anschluss nicht zu verpassen. Das Lernen fällt Olga und Inna, wie vielen jungen Spätaussiedlern, leicht. Den Stoff, der hier in der 10. Klasse auf dem Lernplan steht, hatten sie in ihren alten Schulen längst durchgenommen.

Aber gutes Vorankommen scheitert an mangelnden Deutschkenntnissen. „Wenn du Deutsch kannst, brauchst du hier in der Schule so gut wie gar nicht zu lernen. Es reicht einfach, hinzugehen und die Stunden abzusitzen, so leicht ist der Stoff“, sagt Inna und zuckt mit den Schultern. Aber, fügt sie mit hörbarer Bitterkeit hinzu: „Man muss eben Deutsch können.“

Als Inna und Olga am Anfang des Schuljahres vom Mentoren-Programm „Fit für Bildung – für bürgerschaftliches Engagement“ des Vereins Berlinpolis hörten, meldeten sie sich an. Seit 2005 vermittelt der Verein Berlinpolis junge Spätaussiedler an ehrenamtliche Helfer. Rund 50 Jugendliche aus vier Berliner Schulen nehmen zurzeit an dem Projekt teil. Ihnen zur Seite stehen 20 Mentoren, überwiegend auch Spätaussiedler, die an verschiedenen Berliner Hochschulen studieren. Das Ziel des Projekts: russlanddeutschen Schülern der 10. bis 13. Klasse den Weg in die Universitäten zu ebnen. Oder sie bei der Bildungswahl zu unterstützen.

Seit September treffen sich nun Inna und Olga alle zwei Wochen nach der Schule mit ihrer Mentorin Veronika Taranzinskaja und pauken für die Prüfungen. Manchmal lassen sich die Fragen auch telefonisch klären. Es gibt viele Fragen: „Sie kommen nach Deutschland und stehen vor diesem Wust an Anforderungen und Möglichkeiten“, sagt Taranzinskaja. Es sei ja sogar für einen deutschen Schüler schwierig, das System zu durchschauen. „Und die jungen Aussiedler können nicht einmal auf die Erfahrungen ihrer Eltern zurückgreifen.“

Veronika kam mit zwölf aus der lettischen Hauptstadt Riga nach Berlin. Nach der Schule studierte die 24-Jährige Deutsch und Politik auf Lehramt und wartet nun auf das Referendariat. Orientierungsprobleme im deutschen Bildungssystem hatte sie dank ihres deutschen Stiefvaters nicht. Doch viele ihrer Freunde wurden in die Hauptschule eingegliedert und hätten große Schwierigkeiten gehabt, aufzusteigen, weil das deutsche Schulsystem so selektiv sei. Deswegen möchte Veronika Taranzinskaja den Neuankömmlingen helfen: „Ich sehe das Potenzial, das sie mitbringen, und kenne die Hürden, an denen sie scheitern könnten.“

Seit September coacht Veronika ihre Schützlinge. Dass es für viele nach dem Abschluss der Mittelschule nicht für die Oberstufe reicht, liegt, so Veronika, vor allem am Schulsystem: „Wer nicht genügend Deutsch kann, wird einfach in die leichteren Grundkurse eingegliedert.“

Auch Inna und Olga haben vor kurzem Absagen von einem Berufsgymnasium erhalten. Begründung: Ihre Leistungen seien nicht ausreichend. Veronika will da unbedingt nachhaken – vielleicht schaffen es Inna und Olga in den nächsten Monaten, das Nötige aufzuholen. Dann hätten sie eine Chance auf ein Abitur.

Manchmal stößt Mentorin Natalia Schmidt zu den Treffen dazu. Die TU-Studentin kam nach Deutschland mit dem Abitur in der Tasche, studierte auch schon im kasachischen Pavlodar an der Uni. Wenn die Mentoren sich mit ihren Schützlingen treffen, geht es nicht nur um Bildungsmöglichkeiten. Es werden Führungen in Unternehmen organisiert, Kontakte zu anderen Studenten vermittelt, Museumsbesuche geplant oder man fährt einfach zum Potsdamer Platz Eis essen.

Dieses Mal hat Natalia eine Exkursion in eine Druckerei anzubieten. Die Schülerinnen sind begeistert – obwohl sie mitten in den Prüfungsvorbereitungen eigentlich überhaupt keine Zeit haben. Das Gelernte muss bis zu der mündlichen Prüfung sitzen – auch im richtigen Deutsch. Es wäre doch peinlich, wenn der Lehrer sie korrigieren müsste. Das wollen Olga und Inna auf gar keinen Fall.