Und dann zeigen sie den Schlafanzug

Vor mehr als einem Monat wurde beim Urlaub in Portugal ihre Tochter Madeleine entführt. Seitdem sorgt sich das britische Ärzte-Ehepaar McCann an jeder nur denkbaren medialen Front darum, dass die Aufmerksamkeit für den Fall nicht nachlässt; im Internet, im Vatikan – und gestern auch in Berlin

von JOHANNES GERNERT

Als vor über einem Monat die drei Jahre alte Madeleine aus einem Hotelzimmer im portugiesischen Ferienort Praia da Luz verschwunden war, haben sich ihre Eltern, ein englisches Ärzte-Ehepaar, sofort Berater genommen und die Berater haben ihnen gesagt, dass das Einzige, was Madeleine nun helfen kann, Aufmerksamkeit ist. Seitdem versuchen sie so viel Aufmerksamkeit für ihre Tochter zu bekommen, wie nur irgendwie geht.

Sie haben Bilder an Zeitungen, Magazine und Fernsehsender gegeben, dutzende Bilder und später auch Videos. Sie haben eine Internetseite eingerichtet mit noch mehr Bildern. Sie haben dafür gesorgt, dass riesige Fotos von Madeleine in den Halbzeitpausen auf den Leinwänden britischer Fußballstadien erscheinen. Es gibt Bilder von ihr an Tankstellen, bei McDonald’s, bald auch auf Lesezeichen in Harry-Potter-Bänden. Und die Eltern erzeugen weiterhin Bilder: Die McCanns beim Papst. Die McCanns beim spanischen Innenminister. Und nun: Die McCanns in Berlin, im Besucherzentrum der Bundesregierung, Saal 5 und 6. Die Kameras der Fotografen klackern wie leises Maschinengewehrfeuer. „30 Sekunden“, sagt Clarence Mitchell, früher BBC-Reporter, heute McCann- Berater im Auftrag des Außenministeriums. „Danke“, sagt Mitchell, „das reicht jetzt.“

Neben ihm, auf dem Pressekonferenzpodium, sitzt die Mutter. Sie trägt eine rosa Weste, in ihrem Schoß liegt ein Schlafanzug ihrer jüngsten Tochter. Sie hat die Hände gefaltet. Ihr Gesicht trägt diese fast völlig versteinerten Züge still flehender Trauer. Sie schaut nur selten auf und irgendwann greift sie den Arm ihres Mannes und lässt ihn nicht mehr los.

Gerry McCann sagt, dass sie eine sehr konkrete Bitte haben. Deutsche Portugal-Urlauber sollen ihre Fotos auf Hinweise überprüfen. Er hält ein weißes Blatt mit einer Internetadresse hoch: www.findmadeleine.com. Dort kann man Bilder hochladen. Dann zeigen sie den Schlafanzug. Es ist der Pyjama ihrer Tochter Amelie, identisch mit dem, den Madeleine in der Nacht ihres Verschwindens trug. Die Eltern stehen auf und halten die Pyjamateile hoch. Wäre dies ein Film, an dieser Stelle müssten die Zuschauer heulen, echt heulen, wirklich aufrichtig. Es ist aber kein Film, sondern die Pressekonferenz zum Entführungsfall Madeleine, und es gibt jetzt diesen Verdacht. Ein Kriminalpsychologe hat in Interviews gesagt, dass Eltern vermisster Kinder sich normalerweise zurückziehen. Diese Eltern aber preschen nach vorne. Er habe bei dieser Sache ein komisches Gefühl.

Kate McCann schaut auf und sagt sehr ruhig, dass sie verantwortungsvolle Eltern seien und dass sie noch niemals gehört habe, dass jemand sie für Verdächtige halte. Er könne verstehen, sagt Gerry McCann, dass die Leute verwundert sind, weil das ungewöhnlich ist. Aber die Hilflosigkeit hätten sie nicht einfach so ertragen können. „Wenn wir zu Hause geblieben wären und einfach nur gewartet hätten, wären wir heute nur noch die Hüllen unserer selbst.“

Da sagt jemand den Eltern eines vermissten Kindes, sie hätten ihre Tochter ja vielleicht selbst umgebracht, und die beiden reagieren mit der professionellen Ruhe eines Regierungssprechers, gespenstisch gefasst. Zu Beginn hatte Clarence Mitchell, der Berater, gesagt: Dies seien Leute, die durch außergewöhnliche Umstände in die Öffentlichkeit geraten sind. So ist das aber nicht. Es sind Leute, die ihre verschwundene Tochter mit allen erdenklichen Mitteln in den Medien halten wollen. Als fürchteten sie, dass Madeleine verloren ist, wenn das Scheinwerferlicht ausgeht.

Nach der Konferenz steigen sie mit Mitchell in einen blauen Kleinbus. Sie wollen noch ins Justizministerium und zum Bürgermeister, um sicherzustellen, wie Gerry McCann sagt, dass die Berliner und die deutsche Polizei die Sache so sorgfältig wie möglich handhaben. Heute sind die McCanns in Amsterdam.