Der Tag des Jürgen Trittin

GRÜNE Die Debatte war hitzig. Aber der Aufstand der Parteibasis blieb aus. Die Delegierten billigen den Atomausstieg der Merkel-Regierung – und deshalb wird sogar Jürgen Trittin ganz euphorisch

„Wie glaubwürdig wäre es, wenn wir gegen unsere eigenen Gesetze stimmen?“

JÜRGEN TRITTIN

AUS BERLIN MATTHIAS LOHRE
UND ULRICH SCHULTE

Jürgen Trittin lacht in der ersten Reihe der Delegierten erleichtert, er klatscht, hebt dabei die Hände hoch. Dann federt der Grünen-Fraktionschef die Stufen zum grün angestrichenen Podium hinauf und umarmt die Vorsitzenden Claudia Roth und Cem Özdemir. Trittin, der sich gerne cool gibt, ganz euphorisch? Das passiert selten.

Vor wenigen Sekunden hat eine klare Mehrheit der Delegierten auf dem Sonderparteitag in der Berliner Messehalle einen wegweisenden Beschluss gefasst: Die Grünen tragen das schwarz-gelbe Atomgesetz mit.

Diese hoch umstrittene Entscheidung ist Trittins später Sieg. Das Votum beauftragt die Bundestagsfraktion, genau ein Gesetz aus dem schwarz-gelben Paket zur Energiewende nicht abzulehnen: Die Novelle regelt die sofortige Abschaltung von acht Altmeilern und die stufenweise Abschaltung aller anderen bis 2022.

Dass die Grünen-Basis nach einer emotionalen fünfstündigen Debatte beschließt, die Kehrtwende von Kanzlerin Angela Merkel zu besiegeln, ist eine Genugtuung für Trittin. Denn Merkels Atomgesetz kopiert größtenteils das, was er als Umweltminister in harten Kämpfen mit der SPD in der gemeinsamen Regierungszeit durchgefochten hat. Trittin stritt 1998 in stundenlangen Runden mit SPD-Wirtschaftsminister Werner Müller und den Bossen der Energiekonzerne. Er legte sich mehrmals mit dem damaligen Kanzler Gerhard Schröder an. Er wurde in der Presse als „Everybody’s Gegner“ verspottet. Und am Ende drückte er nach monatelangem Kampf die Festschreibung von Gesamtlaufzeiten durch. Trittin sieht sich als Architekt des Atomausstiegs, den Rot-Grün 2000 vereinbarte.

Den Daumen am Mund und weit im Stuhl zurückgelehnt verfolgt er die Reden. Von Claudia Roth, die von ihrer Angst vor Polizeihubschraubern in Brokdorf erzählt. Von Gesine Agena, die ruft, wenn Merkel nicht den Mut habe, mit Grünen zu verhandeln, habe sie auch die Zustimmung nicht verdient. Dann darf Trittin selbst reden. „Fragt euch doch mal: Warum kann diese Regierung innerhalb weniger Wochen ein solches Atomgesetz formulieren?“, donnert er. „Sie musste zu grüner Gesetzgebung zurückkehren, deswegen geht das so schnell.“ Als der Sitzungsleiter mahnt: „Jürgen, komm zum Ende“, dröhnt er darüber hinweg. „Wie glaubwürdig wäre es denn, wenn wir gegen unsere eigenen Gesetze stimmen?“ Applaus brandet auf. Trittin stoppt aber nicht. Dafür hat er keine Zeit. Zu viel ist noch zu sagen.

Als Verräter beschimpft

Wie sehr ihn der Atomausstieg berührt, wurde am Donnerstagabend in Göttingen deutlich. Trittin besuchte seinen Heimatverband. Im überfüllten Sitzungssaal des Grünen-Zentrums beschimpften ihn Leute aus der Anti-Atom-Szene als Verräter. Trittin brüllte zurück: „Wollt ihr, dass Brokdorf bis 2040 läuft?!“

Trittins wichtigste Gegnerin steht links von der Bühne. Martina Lammers zieht die Schultern hoch, sie ist aufgeregt. Die Kreisvorsitzende aus Lüchow-Dannenberg wird für den Antrag der Parteilinken sprechen, der den Leitantrag des Bundesvorstands kippen will. Lammers will nicht, dass ihre Partei vom im März beschlossenen Ziel eines Ausstiegs 2017 abgeht. Noch vor Wochen wäre jemand wie die Grundschullehrerin aus Lüchow nichts Besonderes gewesen in der Partei. Heute gilt sie als links. Lammers geht ohne Manuskript auf die Bühne. Ihre Rede, die sie sich in den vergangenen Tagen überlegt hat, hat sie kurzfristig über den Haufen geworfen.

Mit Marx gegen Linke

Sie hat sich gegen einen Konfrontationskurs entschieden. Der Leitantrag des Bundesvorstands, der für ein Ja zum Ausstieg 2022 plädiert, sei „sehr gut recherchiert“, lobt Lammers. Das Papier der Führung lege die Mängel des schwarz-gelben Ausstiegsszenarios bloß. „Nur das Fazit ziehe ich nicht. Unser Fazit ist nicht: Zustimmung.“ Rund ein Drittel der Delegierten applaudiert. Lammers stützt die Hände aufs Rednerpult. Die Basisfrau könnte jetzt mahnen, die Anti-Atom-Bewegungen nicht erneut zu vergrätzen. Aber sie tut es nicht. Mit Blick auf geplante Laufzeitverlängerungen für mehrere AKW fragt sie nur: „Seit wann gehen Grüne so etwas ein?“

Die Emotionen schürt wenig später Hans-Christian Ströbele. Der Kreuzberger Abgeordnete, das personifizierte Gewissen der Partei, ruft in den Saal: „Wie glaubwürdig ist es, jetzt 2022 zuzustimmen – und nicht unserem eigenen Gesetzentwurf?“ Die Delegierten applaudieren stürmisch. Auf ihn folgt Renate Künast. Sie dreht die Stimmung, die an diesem Tag hin und her wogt, und zitiert Karl Marx: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert. Es kommt drauf an, sie zu verändern.“ Wieder donnernder Applaus. Die Kritik an den Parteilinken, vorgebracht mit Worten eines ganz Linken: Da hält es Trittin in der ersten Reihe vor Freude kaum auf dem Stuhl.

Dass die Basis am Abend dem Vorstandskurs folgt, stärkt Trittins Rolle im Führungsquartett der Grünen. In diesem belauern sich eifersüchtig der Fraktionschef, seine Ko-Chefin Künast und die Parteivorsitzenden Roth und Özdemir. Indem Trittin in dem Führungsgremium früh und am kenntnisreichsten für die grüne Zustimmung argumentierte, gab er die Linie vor, sein Ton zieht sich durch den Leitantrag des Vorstands. Gegen Ende des Jahres werden die Grünen entscheiden, ob sie den Wahlkampf für 2013 mit vier gleichberechtigten KandidatInnen bestreiten – oder nur mit einem oder zweien. Dadurch, dass die Basis Trittins Linie folgt, ist seine Position gestärkt. Auch wenn sich die Grünen nicht wirklich trauen, einen eigenen Kanzlerkandidaten zu benennen.

Als das Parteitagsergebnis verkündet ist, steht Martina Lammers wieder am Rand der Halle. Ihre Schultern hängen ein wenig tiefer als zuvor. „Aber das Ergebnis war relativ knapp“, sagt Lammers. „Fraktion und Ministerpräsidenten wissen jetzt: Sie können nicht an der Basis vorbei entscheiden.“

Auch Trittin steht von seinem Platz auf, schiebt sich durch die erste Reihe, in der das Präsidium sitzt. Von allen wird er beglückwünscht, muss Hände schütteln, und stellt sich den Fragen von Journalisten. Sind Sie erleichtert, Herr Trittin? Er verschränkt die Arme vor der Brust. „Ach, wissen Sie“, sagt er. „Wenn man nicht das Gefühl hat, eine Mehrheit erreichen zu können – dann formuliert man so einen Antrag nicht.“ Jürgen Trittin ist wieder ganz der Alte.