KOMMENTAR VON JUTTA LIETSCH
: Ai Weiwei ist nicht allein

Ai Weiwei ist wieder zu Hause. Das ist die gute Nachricht. Die schlechte: Er ist mundtot

Wochenlang verschwinden lassen, keinen Anwalt, keine Informationen an die Angehörigen – so, wie die Polizei in den vergangenen Wochen mit Ai Weiwei umsprang, musste man das Schlimmste befürchten: Prozess unter Ausschluss der Öffentlichkeit, Verteidiger, die erst kurz vorher zugelassen werden, eine lange Haftstrafe. Vielen kritischen Geistern ist es in China in den letzten Jahren so ergangen.

Deshalb herrschte unter seinen Freunden und der Familie große Erleichterung, als der Aktionskünstler in der Nacht zu Donnerstag nach Hause in sein Pekinger Atelier zurückkehren durfte. Seine Freilassung deutet darauf hin, dass die Behörden etwas sanfter mit dem 54-Jährigen umgehen werden. Aber das kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass es ihnen gelungen ist, Ai Weiwei zum Schweigen zu bringen. Dies ist die Vorbedingung für eine Entlassung nach Zahlung einer Kaution.

Die Behandlung Ai Weiweis legt den Verdacht nahe, dass es hier nicht um Recht, sondern um Politik geht. Ai ist ein unbequemer Mann. Mit seiner Aktion, die Kinder zu zählen, die beim Erdbeben in Sichuan 2008 gestorben sind, weil sie in schlecht gebauten Schulen saßen, brachte er die Funktionäre zur Weißglut.

Der Künstler Ai ist nur einer von vielen, die in den vergangenen Wochen und Monaten entführt, verhaftet, bedroht worden sind. Chinas Politiker rechtfertigen die Repression damit, dass sie die Stabilität ihres Landes schützen müssten.

Doch es sind nicht die Anwälte, Künstler und Philosophen, die das Land und seinen Frieden gefährden – im Gegenteil: diese Leute halten den Mächtigen in der KP lediglich einen Spiegel vor. Und diesen gefällt nicht, was sie sehen. Die Freilassung Ai Weiweis kam nur wenige Tage vor der Abreise von Premier Wen Jiabao nach Europa. Womöglich wollte er sich damit kritische Nachfragen und Ermahnungen ersparen. Möglich ist aber auch, dass sich Kräfte der Vernunft innerhalb der Partei gegen Hardliner durchsetzen konnten.

Es bleibt abzuwarten, was mit Ai Weiwei nun passiert. Es ist nicht ausgeschlossen, dass die KP ihm eine Brücke bauen will, damit er ins Ausland verschwindet. Vor seiner Festnahme hatte Ai erklärt, er plane ein zweites Atelier in Berlin.

Dass Ai Weiwei wieder zu Hause lebt, ist eine gute Nachricht. Die schlechte: Er ist mundtot und die Partei hat die Möglichkeit, ihn finanziell zu ruinieren.