Nachts in Hanoi

FREMDE WELT In der vietnamesischen Metropole Hanoi ist die Grenze zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen durchlässig. Zu sehen ist das auf den Bildern des Hamburger Fotografen André Lützen

Hanoi verändert sich in einer Geschwindigkeit, die es in westeuropäischen Städten nirgends gibt

„Before Elvis there was nothing“, sagte John Lennon einmal über Elvis Presley – und meinte damit: Vor dem Gott des Hüftschwungs gab es nichts, was von einer ähnlichen popkulturellen Durchschlagskraft war. Solchen, sehr amerikanischen Mythen wie Elvis war der 1963 geborene Hamburger Fotograf André Lützen einige Jahre auf der Spur – und kam in einem vollendeten Fotobuch zu dem Ergebnis, dass die Schönheit und die kulturelle Macht Amerikas eine ist, die in der Vergangenheit liegt.

In seiner aktuellen Serie „Public Private Hanoi“, jetzt zu sehen in der Hamburger Freelens Galerie, blickt Lützen nun nicht mehr in den Westen, sondern in den Osten. Assoziativ ist sein fotografischer Stil geblieben: Mal sind es Unschärfen, die er in den Fokus rückt, unmittelbare Stimmungsbilder des nächtlichen Hanoi. Doch es gibt auch mit bedacht gewählte Motive, wie etwa jenes, das einen Mann im Camping-Stuhl zeigt, während eine Frau den Boden wischt.

In der vietnamesischen Millionenmetropole ist die Grenze zwischen privat und öffentlich durchlässig: Das Leben spielt sich zumindest in den alten Quartieren der Innenstadt noch immer auf den Straßen und Gassen ab. Türen und Fenster stehen offen, geben den Blick in Wohnungen frei. So ungezwungen und poetisch wie Lützen seine Bilder komponiert, so eng und gedrängt wirkt die Ausstellung: Zu dicht beieinander sind die Farbabzüge gehängt.

Doch auch das nächtliche Hanoi ist eng und ruhelos. Überall sind Menschen: Sie sitzen auf den Bürgersteigen, rauschen mit Mopeds vorbei, blicken in den Nachthimmel. Das Leben ist karg und üppig zugleich. Die Konsumwelt des 21. Jahrhunderts, buddhistischer Glaube und die Reste des alten Sozialismus treffen hier aufeinander. Die Fülle dieser vielfarbigen Eindrücke vermittelt dem Betrachter das Bild einer prallen Diesseitigkeit des Lebens, das keinen Unterschied zwischen außen, innen, öffentlich und privat kennt.

Hier schläft jemand, dort lässt sich ein anderer massieren. Wieder andere haben sich zum Essen auf die Straße gesetzt, spielen ein Brettspiel oder schauen Fernsehen. Kinder schreien, alte Männer gähnen, Händler bieten rund um die Uhr ihre Waren an, junge Mädchen haben sich aufgedonnert für die Nacht.

Alles ist ungeheuer intensiv in dieser sieben Millionen Einwohner zählenden asiatischen Großstadt. Schatten huschen vorbei, Farben leuchten in der Nacht. Die Abfolge der Fotografien lässt an einen Film denken, der doch ohne Pointe und Auflösung bleiben wird – denn es ist nichts anderes als der Alltag, der hier gezeigt wird. Doch dieser Alltag scheint uns so reichhaltig, so voll von Eindrücken, dass man beinahe vergisst, wie sich das Leben auch hier ändert.

Hanoi – es ist die älteste Großstadt Südostasiens – verändert sich in einer Geschwindigkeit, die es in westeuropäischen Städten nicht gibt. Umso wichtiger ist es, die Stadt in ihrem gegenwärtigen Zustand festzuhalten. Lützen nähert sich den Menschen behutsam und bleibt nicht außen vor. Vor allem aber gelingt es ihm, das Unbekannte in einer geheimnisvollen Schönheit darzustellen. MARC PESCHKE

Bis 19. August, Freelens Galerie, Steinhöft 5, Hamburg