Verfrühter Nachruf

VON KLAUS JANSEN
, HOLGER PAULER
UND MARTIN TEIGELER

Jürgen Rüttgers verschickte den Nachruf um 14.11 Uhr. „Der Verzicht von Dr. Werner Müller auf den Vorsitz der Stiftung macht den Weg frei für einen raschen und erfolgreichen Börsengang des ‚weißen Bereichs‘ der RAG“, ließ der nordrhein-westfälische Ministerpräsident in einer E-Mail verbreiten. Sein Problem: Der totgesagte Werner Müller, früherer Bundeswirtschaftsminister im Kabinett Schröder und Chef der ehemaligen Ruhrkohle AG, war zu diesem Zeitpunkt noch ziemlich lebendig.

Seit Monaten ringen Bundesregierung, NRW-Landesregierung und Gewerkschaften darüber, ob Werner Müller als Chef der neuen Steinkohlestiftung über den Erlös des Börsengangs der RAG verfügen darf, mit dem die in über 100 Jahren Bergbau entstandenen Milliarden-Altlasten gedeckt werden sollen. Doch statt der gestern von Rüttgers und Bundeswirtschaftsminister Michael Glos (CSU) vermeldeten Beruhigung des Konflikts durch einen Rückzug Müllers droht nun die Eskalation. SPD-Chef Kurt Beck und Vizekanzler Franz Müntefering forderten Bundeskanzlerin Angela Merkel gestern offenbar persönlich dazu auf, die Demontage von Müller zu beenden. Andernfalls könne der Streit zu einer „ernsthaften Belastung der großen Koalition zu werden“, soll Beck der Kanzlerin am Telefon gedroht haben.

Merkel reagierte prompt – indem sie Glos und Rüttgers zurückpfiff: Es müsse eine „Lösung der Vernunft“ geben, die auch Rücksicht auf die betroffenen Personen nehme, erklärte Vize-Regierungssprecher Thomas Steg. Eine grundsätzliche Einigung sei in den nächsten Tagen oder Wochen möglich – und damit noch keinesfalls gefallen. Vielmehr wolle die Bundesregierung bei der Umsetzung des Kohle-Kompromisses „nicht auf die Erfahrung und den Sachverstand Müllers verzichten“.

Dass um Müller in Berlin wie in Düsseldorf so heftig gerungen wird, hat zwei Gründe: Zum einen wird die Zukunft der RAG im Ruhrgebiet ähnlich emotional beäugt wie das Geschick von Siemens oder BMW in Bayern. Wichtiger aber noch ist: Die Union fürchtet, dass Werner Müller als Stiftungsvorsitzender Industriepolitik im Interesse der RAG betreiben will, statt im Auftrag der Steuerzahler Bergsenkungen zu bekämpfen. Zu sehr hatte sich Müller in der Vergangenheit als Mann der Kohle gezeigt, der sein Unternehmen zur Not auch auf Kosten der Allgemeinheit in eine subventionsfreie Zukunft retten wollte. „Großkotzig“ sei Müller während der Kohleverhandlungen ausgetreten, sagte ein Mitglied des Rüttgers-Kabinetts der taz.

Die RAG vermutet nun, dass Müller von seinen Gegnern mit gezielten Falschmeldungen zum Rücktritt gezwungen werden soll. Bereits am Donnerstagabend hatte Wirtschaftsminister Glos überraschend erklärte, dass Müller unter Bedingungen dazu bereit sei, auf den Vorsitz der Stiftung zu verzichten. Eine vorsätzliche Lüge? „Das ist ein einmaliger Vorgang, der sich selbst kommentiert“, sagte eine RAG-Sprecherin. Eine Sprecherin von Glos hielt gestern jedoch an der Darstellung des Ministeriums fest: „Das war zumindest der Stand um Donnerstag, 19 Uhr“, sagte sie der taz.

Eine Entscheidung gegen Müller wäre für Merkel und die CDU auch deshalb nicht ohne Risiko, weil sie damit die mächtige Bergbau-Gewerkschaft IG BCE gegen sich aufbringen würde. Den Kohlekompromiss hatten die Vertreter der noch 34.000 Kumpel noch murrend ertragen, bei einer Entmachtung des RAG-Chefs drohen jedoch neue Proteste. „Die IG BCE hält Werner Müller als Architekten des Börsengangs und der Stiftungslösung für die am besten geeignete Persönlichkeit, die Vorbereitungen dafür abzuschließen und als Verantwortlicher die Stiftung zu führen“, sagte der Gewerkschaftsvorsitzende Hubertus Schmoldt.