WENN DIE KINDER GRÖSSER WERDEN, HABEN ELTERN PLÖTZLICH ZEIT – WISSEN ABER NICHTS DAMIT ANZUFANGEN
: Wie wär’s mal mit Fechten?

MAIK SÖHLER

Es ist eine seltsame Welt, die aus den digitalen Spielen unserer Kinder herausschaut. In „Minecraft“ schlüpfen Kühe aus Eiern. In „Civilization Revolution“ kämpft der Sohn als deutscher König Bismarck mit Panzerarmeen gegen atztekische Bogenschützen. Die Tochter startet „Sims 3“ und „gründet“ erst mal eine Mutter. Kinderspiele sind absurd? Ja, sicher.

Die Welt der Erwachsenen kann aber locker mithalten. Neulich las ich in der taz über eine skurrile Debatte. Immer mehr Eltern kleiner Kinder scheinen vom Bedürfnis getrieben, ihre Kinder an der Straße anzuleinen, damit ihnen nichts passiert.

Haben sie keine Hände, die sie den Kindern reichen können, um gemeinsam über die Straße zu gehen? Oder sind die Hände mit Smartphone und Latte macchiato belegt, sodass sich die Leinenpflicht von selbst ergibt? Nichts als dämliche Stereotype, mag hier ein Leinenfreund einwenden, „ich habe drei Kinder, aber nur zwei Hände!“ Nun ja, die Kindergärtnerin, die einen Ausflug mit zwölf Kindern macht, hat auch nur zwei Hände und leint trotzdem niemanden an.

Im Grad der Absurdität reichen weder die Leinendebatte noch „gegründete Mütter“ an das heran, was unseren Alltag mit Kindern prägt. Stets ist alles neu, alles anders, jeder spontane Impuls zieht Folgen nach sich. Ein begeisterter Fußballtorwart wirft plötzlich hin und geht fortan zum Schach- und Fechttraining. Man selbst hat länger gebraucht, um sich auf die Atmosphäre am Rand eines Fußballfelds einzustellen; alles Gelernte – laut ins Spiel rufen, über den Schiedsrichter schimpfen – ist beim ersten Schachturnier kontraproduktiv.

Eine begeisterte Schwimmerin will am Mittelmeer lieber über den Nahostkonflikt diskutieren, als ins Wasser zu gehen. Wir sind vorgewarnt: Die Präpubertät beutelt sie nach Kräften. Doch das Kind macht sich einfach nichts daraus, bleibt gut gelaunt. Wie soll man damit nun wieder umgehen? Anderswo wird das Fechten wieder abgebrochen. Nun ist Skaten dran.

In all diesem Hin und Her geht fast unter, dass die Kinder uns immer weniger brauchen. Zwar sind Fahrdienste zur muffigen Turnhalle in Berlin-Wilmersdorf oder zur ranzigen Schulaula in Lankwitz immer noch Pflicht, aber nicht mehr lange. Die Zeiten, in denen beide Kinder überallhin begleitet werden mussten, sind längst vorbei. Die Zeiten, in denen beide Kinder zumindest noch Zuspruch und Anteilnahme an ihren Aktivitäten einforderten, gehen gerade zu Ende. Die Zeiten, in denen vieles an uns Eltern vorbeiläuft, beginnen gerade.

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Das fühlt sich gut an. Denn es klingt nach neuen Freiheiten, die uns zufallen. Spontane Verabredungen sind wieder möglich, neue Sportarten können entdeckt – dieses Fechten, wäre das nichts für mich? –, alte Leidenschaften neu belebt werden. Doch ich bleibe passiv.

Fast 13 Jahre elterliche Pflichten lassen sich nicht einfach so abschütteln. Wer weiß, vielleicht kommt ja bald ein Rollback und die Kinder wollen permanent an der Leine ausgeführt werden. Bis dahin aber haben wir Eltern plötzlich wieder Zeit – und wissen sie nicht zu nutzen. Wie absurd ist das denn?