Die Revolution beginnt hier

VORBOTEN DES UMBRUCHS Das Arsenal-Kino zeigt die Filmreihe „Vor dem Sturm. Unabhängiger arabischer Film“

Im Idealfall wird das Kino zum Medium einer reflexiven Nachhut

VON SIMON ROTHÖHLER

Die Zensurbehörde trägt ein freundliches Gesicht: ein kultivierter Bürokrat mittleren Alters erklärt jungen Musikern, dass er persönlich ja durchaus Sympathie für ihre Songtexte habe, die Institution, die er vertrete, jedoch deutlich weniger. Förderung und öffentliche Auftritte kämen deshalb nicht in Frage. Der Tonfall ist konziliant, zwischen den Zeilen wirbt der sich weltläufig gerierende Schreibtischtäter um Verständnis für seine Situation: ihm seien schließlich die Hände gebunden.

Der Film, in dem sich diese Konstellation mehrfach in Variationen wiederholt, heißt „Microphone“ (2010). Gedreht hat ihn Ahmad Abdalla, ein 1978 geborener ägyptischer Regisseur. Zu sehen ist „Microphone“ in der kleinen Retrospektive „Vor dem Sturm – Unabhängiger arabischer Film“ des Arsenal-Kinos, die in Kooperation mit dem Goethe-Institut entstanden ist. Neben einem Kurzfilmprogramm, dessen Arbeiten auch komplett im Netz angesehen werden können (www.arabshort.net), konzentriert sich die Reihe an vier Abenden vor allem auf das junge ägyptische Independent-Kino: auf Filme, die vor dem Sturz Mubaraks produziert wurden, die sozialen Kraftfelder des „arabischen Frühling“ aber bereits erahnen lassen.

„Microphone“ gilt nicht zuletzt deshalb als Aushängeschild dieses aufscheinenden unabhängigen Kinos, weil er das dazugehörige Milieu porträtiert. Es geht um die Untergrund-Szene Alexandrias, viele Künstler spielen sich selbst. Auch die nachgestellten Szenen in dem de facto Zensurmacht ausübenden Kulturinstitut haben eine unmittelbar dokumentarische Qualität. Als Ahmad Abdalla seinen an den Behörden vorbeigedrehten Film nachträglich genehmigen lassen und zur Vorführung anmelden wollte, stießen sich die Beamten weniger daran, wie unvorteilhaft sie selbst darin repräsentiert werden, als an einer Szene, in der ein Graffito gezeigt wird. „Die Revolution beginnt hier“, steht da auf einer Wand zu lesen, ein Satz, der Abdalla zum Zeitpunkt der Aufnahme schon nicht mehr prophetisch vorkam, sondern wie die Verkündigung einer ziemlich offensichtlichen Zukunft. Bereits seit 2005 habe die Revolution in der Luft gelegen, lautet der Kommentar des zum Stellvertreter der „Generation Tahrir“ avancierten Regisseurs.

Als Medium der Revolution hat das Kino, das wird einem bei den Filmen dieser Retrospektive auch bewusst, eigentlich keine wesentliche Rolle gespielt. Die neuen „sozialen“ Medien sind schneller, avantgardistischer, ermöglichen kommunikative Vernetzungen, die auch unter polizeistaatlichen Bedingungen kaum unterbunden werden können. In gewisser Hinsicht geben die jungen Independent-Filmemacher dem Kino eine Basis-Flexibilität im Reagieren auf soziale Wirklichkeit zurück – etwa durch den Einsatz von Laiendarstellern, schlankerer digitaler Technologie und durch inoffizielle Produktionspraktiken, die an der kommerziellen ägyptischen Filmindustrie genauso vorbeizielen wie an als Förderinstitutionen getarnten Zensureinrichtungen. Die generelle Schwerfälligkeit des Kinos, die Zeit, die es braucht, um aus einer Aufnahme ein vorführbares „Kinobild“ zu machen, hat aber auch Vorteile. Im Idealfall wird es zum Medium einer reflexiven Nachhut und bringt die Geduld auf, Verhältnisse, Stimmungen, Tendenzen erzählerisch zu verdichten.

Besonders vielschichtig gelingen diese Synthesen in „Hawi“ (2010) und „Ain Shams“ (2008), zwei Spielfilmen des ehemaligen Kriegsreporters und Kameramanns Ibrahim Batout, die ebenfalls in der Reihe gezeigt werden. Beide sind episodisch konstruierte Querschnittfilme voller Zwischentöne, die komplexe, oft nur angedeutete Figuren-Netzwerke aufbauen, um weitgefasste soziale Kontexte zu erzählen. Entworfen werden Geschichten aus den Vorstädten, aus dem Alltag einer stagnierenden Gesellschaft, die nicht mehr oder noch nicht auf die Revolution hofft. Das individualistisch-polyglotte Selbstbewusstsein der Kunstszene Alexandrias sucht man hier vergebens. Auch formal sind Batouts Arbeiten weniger nah an gängigen Arthouse-Grammatiken als Abdallas doch recht slick inszenierte Filmen.

In „Ain Shams“, der als einer der Gründungsfilme des ägyptischen Independent-Kinos gilt, stehen die Bewohner des gleichnamigen Kairoer Stadtteils im Mittelpunkt. Immer wieder lässt Batout rohe dokumentarische Bilder einfließen, die, aus heutiger Sicht, assoziative Verbindungslinien in die (post-)revolutionäre Gegenwart legen. Eine besonders eindrückliche Sequenz zeigt Material, das der Regisseur bereits 1988 bei einem Polizeiangriff auf eine Moschee in Ain Shams gedreht hatte, der zu heftigen sozialen Unruhen in dem Viertel führte. Batout stand mit seiner Kamera zwischen den Fronten, wurde angeschossen und entschloss sich zwanzig Jahre später, dass diese Aufnahmen nun reif waren, als Kinobilder auf einen bevorstehenden Aufstand hinzudeuten, dessen Dimension 2008 noch niemand absehen konnte.

■ „Vor dem Sturm. Unabhängiger arabischer Film“: ab 17. Juni im Arsenal-Kino