Wie kein Mensch

SÜHNE Eine Frau schlägt mit dem Hammer auf ihren schlafenden Mann ein. Und fährt ihn ins Krankenhaus. Versuchter Mord? Oder Totschlag? Ein Unterschied, so umstritten, dass der Justizminister jetzt Reformen plant

v.Chr. unterscheidet ein Gesetz im antiken Griechenland zum ersten Mal zwischen vorsätzlicher und unbeabsichtigter Tötung. Anklage können Verwandte des Opfers erheben

v. Chr. definiert das römische Recht einen Mörder als jemanden, der zu besonders hinterlistigen Methoden wie Vergiftung greift oder Verwandte umbringt. Darauf steht die Todesstrafe

gibt Kaiser Karl V. das erste deutsche Strafgesetzbuch heraus. „Vorsätzliche Mörder“ werden durch Rädern hingerichtet, „unvorsätzliche Totschläger“ mit dem Schwert

erscheint die erste Fassung des Strafge-setzes für das Deutsche Reich. Als Mörder wird mit dem Tode bestraft, wer „die Tödtung mit Überlegung ausgeführt hat“

führen NS-Richter die bis heute gültigen Mordmerkmale ins Recht ein: Mordlust, Befriedigung des Geschlechtstriebs, Habgier oder sonstige niedrige Beweggründe

fordert ein Strafrechtler beim Deutschen Juristen-tag die Reform des Mordparagrafen. Die An-wesenden stimmen für die Streichung des Wortes „Heimtücke“. Das Ministerium reagiert nicht

AUS LEIPZIG UND CHEMNITZ ANNABELLE SEUBERT

Wenn das Leben nicht die Ursache war, dann doch das Problem. Und das Problem könnte sein, dass es schwer fällt, für das Leben Paragrafen zu finden, noch schwerer aber, Paragrafen für das zu finden, was man das Gegenteil des Lebens nennen mag, oder dessen Konsequenz: den Tod.

Mia hat helle Haut und bald drei Jahre hinter sich, die Kriminalpolizei, Rechtsmedizin, Psychiater, Richter, Staatsanwälte, einen Spürhund und zwei Strafverteidiger beschäftigt haben, von denen einer, ihr Hauptverteidiger, sagt, „zum ersten Mal war ich hilflos bei einem Fall“.

Am 30. Oktober 2011 gegen 4 Uhr soll Mia fünfmal mit einem Hammer auf den Kopf ihres schlafenden Mannes geschlagen haben. Sie soll ihrem Mann gefolgt sein, als er erwachte, aufstand, zu Boden fiel, ins Wohnzimmer taumelte, unterwegs seine Schlüssel zu fassen bekam; als er versuchte, die Wohnzimmertür von innen zu verschließen, die Schlüssel zu Boden fielen, Blut auf Laminat tropfte, als sein Bewusstsein schwand, die Kraft in den Beinen, als die Beine nachgaben und er in einen Sessel sank. Sie soll hinter ihm gestanden, über sein Haar und die Wunde gestrichen, einen Schnürsenkel um seinen Hals gelegt und zugezogen haben, bis er sich wehrte. Sie soll seinem Flehen, den Notarzt zu rufen, nicht nachgekommen sein. Stattdessen soll sie sich Spritzer von den Wangen gewaschen und ihn anschließend selbst ins Krankenhaus gefahren haben. „Terrassenbrüche des Schädeldaches.“ „Ca. 3 mm breite Strangulationsmarke waagerecht verlaufend.“ Nach der Operation saß sie tagelang an seinem Bett.

Als sie das erste Mal dort saß und er noch undeutlich sprach, kritzelte er „Hammer“ auf einen Zettel und steckte ihr den Zettel zu. Mia steckte ihn weg.

„Verdacht einer Straftatenhandlung gegen Leib und Leben.“

„Vergleichsspeichelprobe“, „Entschädigungsanordnung“, „lachsfarbenes Handtuch mit Substanzanhaftung“. Es ist eine Akte entstanden, deren lose Blätter gestapelt einige Kilogramm wiegen. Vieles darin ist vertraulich, so wie Mias richtiger Vorname. Wie „Mia“ klingt er mädchenhaft.

„Schauen Sie sich diese Frau an.“ Stephan Bonell, der Hauptverteidiger, steht neben ihr in Robe, Landgericht Leipzig, Saal 230, wo es voll ist und zu warm für den 3. März. Durch hohe Fenster fällt Licht auf Bonells Schultern. Er dreht sich von rechts, wo Mia sitzt, 28, 1,68 Meter groß, mit Brille und gestreiftem Kleid, in Handschellen wurde sie zum Platz geführt – nach links, zum Richter.

„Sieht so eine Mörderin aus?“

Schweigen.

Wer weiß das schon?

Das deutsche Recht gibt vor, eine Antwort zu kennen. Zwar will es nicht erklären, wie Mörder aussehen. Aber: wie sie sind.

Im Strafgesetzbuch hat man ihr Wesen abgesteckt. „Mörder ist“, beginnt Paragraf 211, Absatz 2, „wer aus Mordlust, zur Befriedigung des Geschlechtstriebs, aus Habgier oder sonst aus niedrigen Beweggründen, heimtückisch oder grausam oder mit gemeingefährlichen Mitteln […] einen Menschen tötet“. Und Totschläger, folgerte man in Paragraf 212, „wer einen Menschen tötet, ohne Mörder zu sein“.

Eine Regel der Ratlosigkeit, dem Wunsch geschuldet, Menschen erklären zu wollen – und vor allem: ein Relikt Roland Freislers, der Hitlers „Blutrichter“ war. Was Laien bis heute oft als Unterschied zwischen Mord und Totschlag verstehen– die geplante Tötung und die Tötung im Affekt – wurde 1941 unter ihm geändert. Seither wird in Paragraf 211 ein Tätertyp beschrieben, wie Nazis ihn sich vorstellten. Nicht, wie in den anderen Paragrafen: eine Tat.

Gesetze vom „Ungeist der Naziideologie“ befreien

Schon oft hatten Strafrechtler deshalb Reformen verlangt. Doch erst seit im Herbst 2013 Schleswig-Holsteins Justizministerin eine Neuregelung und der Anwaltverein im Winter die Abschaffung des Mordparagrafen forderte, wird wieder über ihn diskutiert. Justizminister Heiko Maas rief eine Expertengruppe aus Juristen, Kriminologen und Psychiatern zusammen, die, so schreibt er in einer E-Mail aus dem Urlaub, das Gesetz vom „Ungeist der Naziideologie“ befreien will. Jenes Gesetz, das nahelegt, da seien Menschen, die Mörder sind. Und da seien andere.

Es gab Nachbarn, die bei der Polizei aussagten, eine weinende Frauenstimme und eine lautere Männerstimme gehört zu haben in der Nacht, in der Mia offenbar ihren Mann umbringen wollte. Leipzig-Wahren, ein Neubau an einer gepflasterten Straße, neben der Klingel klebt noch das Schild mit Mias Nachnamen. Die Menschen im Haus sind einsilbiger geworden mit der Zeit, sie möchte „das Ganze langsam beenden“, sagt eine Stimme über die Sprechanlage. Die Wohnung, in der das Verbrechen passierte, zwei Zimmer, Küche, Bad, wird bei Immonet zur Miete angeboten. Provisionsfrei. Ruhig gelegen.

An der nächsten Hauptstraße sehen die Häuser aus, als hätte man ihnen die Ornamente abgeschlagen. Ein Bushidoposter ist in Fetzen gerissen, vor einem Bratwurststand sind Bierflaschen ausgelaufen. Brötchen 85 Cent. Kaffee 59 Cent. Deutschlandschals hängen von einem Fenstersims. „In uns allen liegt die Zukunft der Nation“, steht am Eingang darunter. Ein Polizeiwagen fährt vor, dann noch einer, die Beamten steigen aus und stellen sich mit Rostbratwürsten an Plastiktische.

Mia war solche Gegenden gewohnt. Sie wuchs in einer Kleinstadt in Sachsen auf, machte Ausbildungen, suchte Jobs, machte Umschulungen, suchte Jobs. Ihren Mann lernte sie 2005 beim Chatten kennen, als Kontrollfanatiker wird er in der Akte dargestellt: beleidigend, brutal. Einmal habe er ihr die „Hand verdreht“. Einmal ein heißes Baguette „in den Mund gedrückt“.

Trotz der Perspektivlosigkeit, Hartz IV, dem Kinderwunsch, der unerfüllt blieb, ist es nicht so, dass da nur noch Hass liegt zwischen Mia und ihrem Mann. „Verstehen Sie mich nicht falsch“, sagt sie, als sie neben Bonell, ihrem Anwalt, den Stuhl zurückschiebt und darunter das Holz knarzt, als sie aufsteht im Saal und ihre schriftliche Einlassung vorliest, die Stimme klar, die Augen nicht. „Wir haben aus Liebe geheiratet.“ Nur sei sein Charakter im Weg gewesen.

„Er betrank sich fast täglich.“ „Auseinandersetzungen gipfelten in körperlichen Angriffen.“ „Ich habe mehrmals versucht, die Beziehung, zu beenden“, Mia wird leiser, verschüchtert, sie hetzt jetzt durch die Zeilen, und Bonells Frage scheint noch mal durch den Raum zu hallen. Sieht so eine Mörderin aus? Ihr Mann habe sie in eine „ausweichlose Lage“ gebracht, gedroht, sich umzubringen, wenn sie ihn verließe. Er hatte sich Spritzen besorgt, um sich mit ihnen Luft in die Venen zu drücken. Ein schmerzloser Tod soll das sein, einer, den „ein Feigling“ wählt, findet Bonell.

Sieht so ein Feigling aus? Mias Mann hat den Stuhl zugewiesen bekommen, den man am besten sieht, den des Zeugen, den des Opfers. In der Mitte, Blick zum Richter. Ob er auf diese Vorwürfe eingehen wolle? In der Akte sei von seiner „aufbrausenden Art“ zu lesen. Mias Mann, 34, 1,95 Meter groß, trägt Adidas, Jeans, die ausgeblichen sind, und eine Narbe an der Stirn. Einen Brief mit der Bitte, für diesen Text von seinem Fall zu berichten, hat er unbeantwortet gelassen. „Verbal“, sagt er – verbal aufbrausend, das ja. „Hätte ich gewusst, was in unserem Wohnzimmer auf mich zukommt, hätte ich sie an den Haaren gepackt und durch den Schrank geschlagen.“

Noch während er im Krankenhaus lag, stießen Polizisten die Tür zu ihrer Wohnung auf. „Während der Tatortuntersuchung herrscht trockenes Wetter. Die durchschnittliche Temperatur beträgt etwa 16 Grad.“ 51 Spuren wurden gesichert, am einen Ende des Hammerstiels nur seine DNA gefunden. Am anderen auch ihre. Der Schnürsenkel lag, blutgetränkt, in einer Tabakdose von Pall Mall.

Trotzdem vergingen fast zwei Jahre, bis Mia von ihrem Mann belastetet wurde. Vorladungen erreichten ihn. Er ließ die Termine verstreichen. Er fand eine neue Freundin und eine neue Wohnung, reichte die Scheidung ein.

Die Dinge wären so geblieben. Und Mia nicht verurteilt worden.

Dann aber – und das war zu viel für ihn – entdeckte er einen Eintrag in der Schufa, als er auf seinen neuen Mietvertrag wartete. Einen, den Mia ihm eingebrockt hatte. Immerzu habe sie Dinge bei Ebay ersteigert, „kaufsüchtig“ sei sie wohl gewesen, sagt er: Kleider, Möbel, es gab einen Kinderwagen, aber kein Kind. Mia bestellte noch auf seinen Namen, lange nachdem sie ihn mit dem „300g-Hammer mit Metallkopf und Holzstiel, gesichert unter dem rechten Bett des Doppelbettes“, aus dem Schlaf gerissen haben soll.

Diese Dreistigkeit, muss er gedacht haben. Bestellungen, die sie ihm anlastete. Einen Haufen Schulden, die sie ihm hinterließ. Ärger, Rennerei.

„Ich hätte ansonsten keine weiteren Angaben gemacht. Ich hätte die Klappe gehalten“, sagt Mias Mann und die Schöffen lauschen. „Aber dann wurde ich weiter getreten.“ Er starrt zur Decke. „Getreten hat sie, so ist mein Gefühl.“

Zweiundzwanzig Tage später, es ist der Tag, an dem Mia verurteilt werden soll. Als Bonell, der Anwalt, Saal 217 betritt, sitzen ein paar Studenten auf einem Tisch an der Seite, ein paar auf den Stühlen daneben; Jura im fünften Semester. „Und? Was kommt raus, was denken Sie?“, fragt Bonell sie.

„Fünf Jahre“, flüstert ein Student. „Sechs“, ruft ein anderer.

Bonell stellt seine Aktentasche ab, „nee“, sagt er und lacht, „das wird mehr“. Er will doch etwas anderes wissen, den Kern nämlich. „Was ist es rechtlich? Mord? Oder Totschlag?“

Er war „arg- und wehrlos“. Mias Mann schlief

Auf versuchten Totschlag plädiert Bonell.

Die Staatsanwältin: auf versuchten Mord, und zwar gleich dreifach – der Hammer, der Schnürsenkel, und die Weigerung, den Notarzt zu rufen. Als „absoluten Vernichtungswillen“ bezeichnet sie das, als Tötung mit Vorsatz, es liege geradezu das Paradebeispiel für einen versuchten Mord aus Heimtücke vor: Mias Mann hatte keine „ausreichenden Verteidigungsmöglichkeiten“. Er war „arg- und wehrlos“. Er schlief.

Tatwaffe: Küchenmesser. 2013 tötet ein 18-Jähriger mit mindestens 18 Stichen eine Frau aus seiner Münchener Nachbarschaft. Er wollte so an die Wohnung des Opfers kommen, gesteht er. Die Anklage: Mord aus Heimtücke. Das Urteil: Freispruch wegen Schuldunfähigkeit und Einweisung in die Psychiatrie

Heimtücke ist auch das Paradebeispiel dafür, dass der Mordparagraf in seiner bestehenden Form überholt ist. Heimtücke gilt als „Mordmerkmal der Schwachen“ und damit statistisch gesehen als das der Frauen. „Juristische Eiertänze“ müssten aufgeführt werden, heißt es vom Deutschen Anwaltverein, um ein faires Strafmaß für „Haustyrannenfälle“ auszuhandeln, wie sie Justizminister Heiko Maas in seiner Urlaubsmail benennt: „Die Ehefrau, die sich gegen ihren Ehemann, der sie seit Jahren drangsaliert, nicht mehr anders zu wehren weiß: Sie tötet ihren Mann im Schlaf.“

Sie handelt heimtückisch, und Heimtücke bedeutet Mord, und Mord bedeutet „lebenslänglich“. Für Totschlag ist das Strafmaß vergleichsweise mild, liegt aber bei mindestens fünf Jahren. Die misshandelte Frau, die Gift in den Kaffee mischt, bleibt so meist länger im Gefängnis als der Mann, der zu fest zugeschlagen, der totgeschlagen hat. Das Konzept krankt an seinem Automatismus – und veralteten Mordmerkmalen:

Habgier.

Gemeingefährliche Mittel.

Niedrige Beweggründe, Hauptanwendungsfall des § 211 StGB. Verurteilt werden damit Motive, die nach „allgemeiner sittlicher Würdigung auf tiefster Stufe“ stehen. Nur wo beginnt die?

„Gesetze ändern sich mit der Gesellschaft“, wird Bonell später sagen, auf die Autobahn wird er starren, unterwegs nach Südosten sein, zur Justizvollzugsanstalt Chemnitz. Unterwegs zu Mia. Von Fällen wird er erzählen, an die er noch zu viel denkt: Da war ein Mann, der seine vier Freunde erschoss. Sie hatten getrunken, über das Fernsehprogramm gestritten. Der Mann fuhr nach Hause, ahnte, einer habe überlebt, fuhr zurück, und schoss erneut. Für die ersten drei bekam er Totschlag, weil sie nicht arg-, nicht wehrlos waren; sie konnten sehen, wie er die Pistole zog und zielte. Bloß für den vierten bekam er Mord.

„Die Gesellschaft hat natürlich eher den Blick für das Opfer als für den Täter“, sagt Bonell. Er glaube seinen Mandanten, „grundsätzlich“. Und wenn man ihnen nicht glauben kann? „Dann merke ich das.“

Vielleicht erwähnt er deswegen im März, im Saal 217, kurz bevor das Urteil verkündet wird, dass Mias DNA am Schnürsenkel nicht nachgewiesen werden konnte. Dass die Spuren am Hammerstiel „nicht unbedingt nahelegen, dass sie ihn benutzt hat“. Vielleicht wiederholt er deswegen einige der Sätze, die Mias Mann über die Tatnacht verlor.

„Ich setzte mich auf den Sessel.“ / „Sie kam daraufhin rein, guckte wie ein Zombie durch mich durch und hat keinen Ton gesagt.“ / „Nichts, gar nichts.“ / „Es war ein völlig ausdrucksloses Gesicht.“ / „Meine Frau war wie kein Mensch.“ / „Nicht sie.“ / „Ich bin dann aufgestanden.“ / „Sie ist zusammengebrochen.“ / „Dann ist sie zu sich gekommen und meinte, sie war das nicht.“

„Haben Sie Ihre Frau in einem solchen Zustand schon mal gesehen?“

„Nein.“

Wie spiegeln sich solche Aussagen im Gesetz? Ein Psychologe bescheinigte Mia eine „mittelgradige depressive Episode“, zu wenig für verminderte Schuldfähigkeit – dafür müsste, erklärt die Staatsanwältin, „die Krankheit erheblicher sein“. Zumal sich laut forensisch-psychiatrischem Gutachten „keine Anhaltspunkte für psychopathologisch relevante Phänomene“ wie Wahn, Halluzinationen oder Denkstörungen zeigten. Mia sei vielmehr eine „unzureichend selbstsicher wirkende, am ehesten etwas unreif und wenig durchsetzungsfähig imponierende, aber auch egozentrisch-selbstbezogen und bedürfnisgeleitet agierende Frau“. Eine Mörderin?

Zwei Menschen. 58 Quadratmeter. Blut, das durch ein Laken und den Bezug des Kissens sickerte. Das an Sitzpolstern klebte. An der Türblattkante, auf Raufaser, Teppich, an Frotteetüchern, am Toilettendeckel, an seinem T-Shirt. An seinen Socken. An ihrem Schlafanzug.

Ungewöhnlich sei der Prozess gewesen, schließt der Richter. Allein dass die Sache mit der Schufa der Auslöser war. Dass überhaupt der ganze Fall „völlig fehlbehandelt“ worden sei „seitens der Polizei“, zunächst eingestellt wurde, als Mias Mann keine Aussage machen wollte. Dass eine „Kombination von Mann und Frau“ vorliege, in welcher der Mann „sicherlich nicht der Traum aller Schwiegermütter sein kann“; dass Mia den 30. Oktober 2011 in Endlosschleife schilderte, wie sie stritten, er bemerkte, dass die Heizung im Schlafzimmer aufgedreht war, zu hoch für seinen Geschmack, die Betriebskosten, wir heizen noch zum Fenster raus, wie er fünf Flaschen Bier trank, womöglich sechs, wie sie eine Kopfschmerztablette nahm, gegen 23 Uhr im Bett lag und gegen 4 Uhr im Bett saß. Nicht zuletzt weil Mia doch für sein Überleben sorgte und ihn ins Krankenhaus brachte, habe man sich auf eine Freiheitsstrafe von acht Jahren geeinigt, sagt der Richter. Für gefährliche Körperverletzung und versuchten Mord.

Ein Strafmaß am „untersten Rand des Möglichen, das die Kammer hier verhängen könnte“.

Hätte Maas’ Justizreform bereits gegolten, hätte sich der Richter nicht verrenken müssen. Er hätte nicht Mias Kooperationswillen im Verfahren hervorheben und mit der Gewaltbereitschaft ihres Mannes argumentieren müssen, um das Strafmaß zu drosseln.

Und das, weil er Verständnis hatte. Was nicht einfach ist, weil man damit Haltung bezieht. Was denkt man etwa von einer Frau, die jahrelang ihren Mann pflegt, ihn wäscht, anzieht, die ihm die Zähne einsetzt, ihn mit Brei füttert, sich von ihm anschreien lässt, kratzen – bis diese Frau irgendwann, aus Schwäche oder Liebe, zum Bett ihres Mannes schleicht und ihn erwürgt?

Mord. „Lebenslänglich“.

Eine Gesellschaft, in der es keinen Mord mehr gibt

Noch vor der Sommerpause 2015 will die Expertengruppe, die das Ministerium beauftragt hat, Vorschläge vorlegen. Einer will statt „Mord“ und „Totschlag“ nur noch „Tötung“ ins Gesetz schreiben. Die Strafandrohung läge bei fünf bis fünfzehn Jahren oder „lebenslänglich“. Die Mordmerkmale könnten entfallen, und der Nazijargon. Reformen, die überfällig sind und dabei wenig Ruhm versprechen: Maas hatte seine Pläne kaum angekündigt, schon fürchtete Bayerns Justizminister, die Debatte könnte „durch die Hintertür“ infrage stellen, ob es die Höchststrafe „lebenslänglich“ noch brauche. Und die brauche es doch, als „absolute Strafandrohung“. Zur Abschreckung. Zur Abgrenzung. Und für Schlagzeilen.

Bring mal einer Gesellschaft bei, dass es keinen Mord mehr gibt.

Wer weiß, meint Stephan Bonell, „als ich noch studiert habe, war Ehebruch strafbar. Da lacht heute doch jeder drüber.“ Er ist einer, der in Strategien denkt und zugleich an ihnen zweifelt. Der mit Verfügungen und Verordnungen hadert und sicher manchmal auch mit Menschen. Manche Kilometer steuert er seinen Jeep wortlos über die Autobahn, in Richtung Chemnitz. Dann ruft er Erinnerungen ab, Ermittlungen und Daten: 1982 war das, das weiß er genau, weil „Ein bißchen Frieden“ damals den Eurovision Song Contest gewann und dieses Mädchen, vier, fünf Jahre alt, zu dem Lied tanzte. Es war ein Mädchen, das er gekannt hatte. Der Vater fuhr mit ihm zu McDonald’s und zum See. Dort presste er seiner Tochter ein Kissen aufs Gesicht, sie schrie, bitte töte mich nicht, bitte nicht. Er drückte, bis sie erstickte. Anschließend fuhr er zur Mutter des Kindes, sagte: Du, komm mal raus. Im Auto liegt was.

Der Vater wurde für Totschlag verurteilt, denn sein Kind hatte Widerstand geleistet, geweint und gebettelt. Es wurde nicht überrascht.

„Vieles bleibt unbegreiflich“, sagt Bonell, er hat die Ausfahrt genommen, vor den Gebäuden der JVA geparkt, mehrstöckigen Platten, wenig mehr als der Stacheldraht und die Mauer deuten an, dass er vor keiner Klinik hält.

Aber das hier, sie, Mia, bliebe ihm „wirklich, wirklich unbegreiflich“. Klar, dass Mandanten Taten verdrängen, das komme schon vor. Er steigt aus dem Jeep. Aber dass sie dauerhaft Taten verdrängen? Das nicht.

Mia verdrängt dauerhaft. Seit Bonell sie das erste Mal traf, behauptet sie, sich an nichts erinnern zu können. Sie sei am 30. Oktober 2011 gegen 4 Uhr von Schreien aufgewacht, und auf einmal war alles voller Blut.

Auf einmal war alles voller Blut?, dachte er.

Er hörte von ihren Träumen, die immer gleich abliefen in den Nächten vor der Tat: Eine dunkle Gestalt stand mit erhobenem Messer vor ihrem Bett.

Tatwaffe: Gaspistole. 2011 feuert ein 48-Jähriger am Düsseldorfer Hauptbahnhof auf einen Polizeibeamten, nimmt dann eine 22-jährige Passantin als Geisel und schießt ihr in den Kopf. Sie überlebt, weil die Kugel seiner altertümlichen Waffe in der Kopfhaut stecken bleibt. Die Anklage: Versuchter Totschlag des Polizisten und versuchter Mord der jungen Frau. Das Urteil: Freispruch wegen Schuldunfähigkeit und Einweisung in die Psychiatrie

Er las eine Nachricht ihres Mannes aus den Tagen nach der Tat: „Du musst dich für nichts entschuldigen, was du nicht getan hast.“

Er begann, sie zu triezen. Vergangenheit zu verlangen. Los, Mia, erinnern Sie sich. Sie müssen sich erinnern. Wahrheit verlangte er, für sich, für sie, vielleicht für diesen Text, damit das Tun der Kriminalpolizei Sinn erhält, das der Rechtsmedizin, der Psychiater, der Richter, der Staatsanwaltschaft, eines Spürhunds oder bloß, um klarzumachen, dass das Leben wenn nicht die Ursache seiner Fälle ist, dann zumeist das Problem.

Gedächtnislücken, Mia, das glaubt Ihnen doch keiner. Wo waren Sie?, fragte er.

Wie lag Ihr Mann?

Rechtsseitig?

Sind Sie vor ihm gekniet?

Hinter ihm?

Wo waren Sie?

Mia!

Die Steintreppe hinauf, durch eine Glastür, links zur Anmeldung, rechts zum Warteraum. Dann der Wärter, das Rasseln der Schlüssel, Tür, Rasseln, Tür, Rasseln, er macht einen Witz: „Ist ja wie im Gefängnis hier. Alles muss man aufschließen.“

Für den Weckdienst, 6 Uhr. Das Mittagessen, 11 Uhr. Für Kunsttherapie, Kompetenztraining, Deliktaufarbeitung. Hofgang, 15:30 Uhr bis 16:30 Uhr. Abendessen, 16:30 Uhr.

Langstrafestation, Station 5. Ein Raum mit Gardinen, die die Gitter verschleiern, mit einer Spielecke für Kinder; Marienkäfer und Schmetterlinge sind an die Wand gemalt. Mia wartet.

Sie zeigt auf ihre Unfreiheit, Zaun und Beton, „da drüben der Basketballplatz“, daneben die Tischtennisplatten. Schlicht tritt sie auf, mit Arbeiterschuhen, das braune, volle Haar zurückgebunden. Mia hat etwas Kindliches und die Augen auf Bonell geheftet. Sollte sie nervös sein, ist das der einzige Hinweis darauf. Ihre Bewegungen unterliegen einer Ordnung, die Beine hält sie verschränkt, die Hände ruhig, und wenn sie spricht, sächsisch, knapp, mit Halbsätzen als Schutz, dann so, als spreche sie nicht über sich. „Man fühlt sich leer“, sagt sie. „Überwinden kann man das nicht.“

Allein wie die Kripobeamten mit dem Haftbefehl vor ihr standen. Sie dürfen Ihren Anwalt kontaktieren und eine Bezugsperson. Sie haben das Recht zu schweigen. Bitte packen Sie Ihre Sachen. „Und falls Sie weglaufen: Ich bin schneller als Sie.“

Sie packte ihre Sachen, wertete es als gutes Zeichen, dass man ihr keine Handschellen anlegte. Vor einem Mädchen wie ihr hat man doch keine Angst. Oder?

„Das kann man nicht vergessen“, sagt sie. „Das Wieso und Weshalb.“

Die Hochzeit war eine richtige, erzählt sie, nicht nur „zum Standesamt, trauen, Tasse Kaffee, fertig“. Sie hatte ein Kleid. Es gab einen Raum, zwanzig, dreißig Mann. „Es war alles da.“

War ihr Mann ein Choleriker?

„Ja.“

Plötzlich stand sie „mit den meisten Dingen alleine da“. Geputzt hat sie, gekocht, sich ein Kind gewünscht. Wenn es ihr schlecht ging, sagte er, sie solle ihn „mit so ’nem Scheiß in Ruhe lassen“.

War ein Limit erreicht an jenem Abend?

„Ja. Das war so ein Gefühl von einer Explosion.“

Tatwaffen: Hammer und Messer. 1990 wird in München der Schauspieler Walter Sedlmayer gefesselt, gefoltert, mit einem Messer verletzt und dann mit einem Hammer erschlagen. Sein Ziehsohn und dessen Halbbruder beteuern ihre Unschuld, werden aber in einem Indizienprozess für schuldig erklärt.

Das Urteil: „lebenslänglich“ wegen gemeinschaftlichen Mordes

Sie hatten ferngesehen, bis sie müde wurde und ins Schlafzimmer ging. „Ein Dunst hier drin“, zischte er, als er nachkam.

„Man denkt oft drüber nach“, sagt sie und schweift ab, sieht zum Hof, wo Vögel zwitschern, sieht zurück. „Man denkt oft drüber nach.“

Bonell springt auf.

„Über was?“, fragt er. „Über was denkst du nach? Was ist passiert? Was haben Sie gemacht?“

„Warum ich?“, fragt sie. „Warum ich überhaupt zu dem Hammer gegriffen habe?“

„Haben Sie zum Hammer gegriffen?“, fragt er.

Haben Sie?

Hast du?

Haben Sie?

„Ich denke mal schon, ja“, sagt sie.

Man will Täter verstehen. Im „Tatort“. Im Gesetz

Es klopft, plötzlich steht der Wärter vor der Kinderecke, den Schlüsselbund in der Hand, hinter ihm die Schmetterlinge an der Wand. Wann er Mia zum Mittagessen holen könne?

„Drei Minuten noch“, platzt es aus Bonell. Wenn sie gestanden hat, dann soeben. Wenn sie einknickt, dann jetzt. Irgendwann knicken sie alle ein, das kennt er doch, so ist es doch immer, früher oder später, diesmal vielleicht bloß später als sonst. Und vielleicht, wenn sie einknickt, kann er abschließen, aufhören den Rechtsspruch abzuwägen, ob sie mehr unter ihrem Mann gelitten hat oder ihr Mann unter ihr, versuchter Mord oder Totschlag, dann kann er versuchen, sie zu verstehen, wie man Täter immer zu verstehen und Böses zu verstauen versucht: Bei „Miss Marple“. Im „Tatort“. Im Paragrafen 211.

Wäre die Akte Gewissheit, könnte Bonell zurück in die Kanzlei fahren, Delikte wälzen, 14, 15 Verhandlungen im Monat, und endlich den Gedanken aufgeben, der ihn plagt: „Zum ersten Mal war ich hilflos bei einem Fall.“

Drei Minuten, der Wärter ist weg. Bonell hebt an.

„Der hat geschlafen. Der hat geschlafen, Mia. Und wenn jemand schläft und man mit ihm dem Hammer auf den Kopf haut, ist es nun mal – in Bayern sagt man: hinterfotzig.“

„Ja.“

„Das ist hinterlistig. Wie sie vor Gericht gesagt haben: Wenn man sich gegenübersteht und man kämpft, ja, dann ist man im gewissen Sinne vorgewarnt. Aber wenn man schläft und wenn man nichts weiß, und dann …“

■ Die Taten: Als Straftaten gegen das Leben bezeichnet das Strafgesetzbuch in den Paragrafen 211 bis 222 neben Mord und Totschlag auch die Tatbestände Tötung auf Verlangen, Schwangerschaftsabbruch, Völkermord, Aussetzung eines Menschen in einer hilflosen Lage und fahrlässige Tötung.

■ Die Statistik: Die Zahl der Mordopfer ist in Deutschland zwischen 2000 und 2013 von 497 auf 281 gefallen. In Fällen von Totschlag und Tötung auf Verlangen starben 1.979 Menschen im Jahr 2000, 2013 wurden noch 1.736 Opfer gezählt. Die Aufklärungsquote der Polizei bei Mord beträgt 96 Prozent.

Er stockt.

„Das Problem ist, dass Sie das nicht aufgearbeitet haben, weil wenn man’s nicht weiß, nicht aufarbeiten kann.“

Sie nickt.

„Deswegen können wir’s nicht aufarbeiten.“

Er nickt.

„Der geht raus. Setzt sich auf einen Stuhl. Und dann kommst du noch mal.“

Sie nickt.

„Was ist da passiert?“

Er sieht zu ihr runter.

„Was ist da in dir passiert? Versuch’s mal, jetzt noch kurz zu sagen, jetzt, die letzte Minute. Was ist passiert? Was weißt du da noch?“

„Mit dem Sessel?“, fragt sie.

„Mit dem Sessel“, sagt er. „Mit dem Strangulieren.“

Schritte hallen auf dem Gang. Null Minuten, der Schlüssel wird im Schlüsselloch gedreht. Mit dem Sessel, Mia, mit dem Strangulieren. „Was weißt du da noch?“

„Na“, sagt sie und sieht zu ihm hoch. „Gar nichts. Eben gar nichts.“

Annabelle Seubert, 28, ist Redakteurin der taz.am wochenende. Sie mag die Bücher des Strafverteidigers Ferdinand von Schirach