Polens Regierungschef spielt auf Zeit

Kaczyński verzögert das Inkrafttreten des Urteils zum Stasiunterlagengesetz. Hunderttausende in Ungewissheit

WARSCHAU taz ■ In Polen ist ein heftiger Streit um den weiteren Umgang mit dem Stasiunterlagengesetz entbrannt, das vom Verfassungsgericht am Freitag fast vollständig kassiert worden war. Da Regierungschef Jarosław Kaczyński der Verpflichtung, das Urteil „unverzüglich“ im Gesetzesblatt zu veröffentlichen, nicht nachkam und damit das Inkrafttreten des Urteils verzögerte, stehen nun hunderttausende Bürger vor dem Ungewissen.

Gestern lief nämlich nach dem geltenden Gesetz eine Frist für rund 700.000 Politiker, Wissenschaftler, Journalisten und Schuldirektoren ab, innerhalb der sie eine Erklärung darüber abgeben sollten, ob sie während der kommunistischen Herrschaft Spitzeldienste geleitet haben. Diejenigen, die falsche Angaben machen oder gar keine Antwort geben, sollten mit einem Berufsverbot belegt werden. Letztlich geht es der Regierungspartei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) dabei um einen gigantischen Elitenaustausch.

Die Verzögerung bei der Veröffentlichung des Urteils liegt freilich nicht an technischen Problemen. Die zuständige Druckerei verbreitete beizeiten, dass sie nur sechs Stunden brauche, um den Text fertig gebunden vorlegen zu können. Das wäre rechtzeitig zu schaffen gewesen. Doch Kaczyński hatte die Ruhe weg: „Ein paar Tage werde ich brauchen“, erklärte er. „Das ist normal und ‚unverzüglich’.“

Das vernichtende Urteil über das Stasiunterlagen- oder Lustrationsgesetz hat auch die Debatte über den Umgang mit den Stasiunterlagen neu belebt. „Öffnet alle Akten!“, fordert plötzlich Adam Michnik, der frühere Bürgerrechtler und Chefredakteur der Gazeta Wyborcza. Bis vor kurzem noch war er ein vehementer Gegner der Stasiaufarbeitung in Polen. Er fürchtete Rache, Denunziationen und Lügen und sah eine Schreckensherrschaft der Akten über Polen hereinbrechen. „Das Ziel unserer Verfolger war schließlich nicht, die Wahrheit über uns herauszufinden, sondern uns zu kompromittieren, zu bespeien und zu erniedrigen.“

Michnik, der mehrere Jahre für seinen Freiheitskampf gegen die Kommunisten im Gefängnis saß, sagt heute: „Jeder von uns kann jederzeit wieder bespuckt werden.“ Denn in Wirklichkeit seien die Akten der Staatssicherheit (SB) schon zur Gänze offen, allerdings nur für die derzeit Herrschenden und die Mitarbeiter des Instituts des Nationalen Gedenkens (IPN). Sie würden die Stasiakten wie „Baseballschläger gegen Andersdenkende“ einsetzen.

Zeugen dieses Missbrauchs seien vor ein paar Tagen alle Polen geworden, als angebliche Stasiakten zum Ausschluss zweier Verfassungsrichter aus dem laufenden Verfahren über das Stasiunterlagengesetz führten. Die PiS und das IPN hätten hier Hand in Hand gearbeitet, um das Stasiunterlagengesetz über den 15. Mai hinaus zu retten. Michnik ist heute überzeugt, dass nur mit der totalen Archivöffnung des früheren Sicherheitsdienstes das Monopol der derzeitigen Stasiakten-Besitzer zu brechen sei: „Besser ein Ende des Horrors denn ein Horror ohne Ende.“

Auch Polens Regierungschef Jarosław Kaczyński fordert: „Öffnet alle Akten!“ Er will allerdings private und zu verleumderischen Zwecken gesammelte Daten über Sexvorlieben, Alkoholexzesse, religiöse Praktiken ausgeklammert sehen. Zumindest für die Öffentlichkeit. Doch, so versichert er: „Wir wollen niemandem Schaden zufügen“ und, „Ich bin kein Schwein!“

Seine Schlussfolgerung aus dem Debakel vor dem Verfassungsgericht verrät allerdings den zu kommunistischer Zeit geschulten Juristen. „Wenn das Lustrationsgesetz nicht verfassungsgemäß ist, ändern wir eben die Verfassung“, so Kaczyński. GABRIELE LESSER

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