Eine Art Mangelverwaltung

Baden-Württemberg hat den Medizinertest wieder eingeführt. Am Samstag werden zum ersten Mal nach zehn Jahren Bewerber über den Testbögen schwitzen. Kritiker halten sie für zu einseitig und plädieren für individuelle Auswahlverfahren

VON FLORIAN HOLLENBACH

Wenn sich am Samstag die Türen zur Stuttgarter Liederhalle öffnen und hunderte Jugendliche ihre Plätze suchen, findet hier nicht etwa ein Konzert statt. Statt gute Musik und Partystimmung zu genießen, werden hunderte Studienbewerber grübelnd über ihren Testbögen sitzen. Baden-Württembergs medizinische Fakultäten haben den Medizinertest wieder eingeführt. Damit wollen sie feststellen: Wer ist in der Lage, Medizin zu studieren?

Erst vor zehn Jahren war der Medizinertest bundesweit abgeschafft worden. Auch weil eine vom Abitur unabhängige Bewertung der Bewerber nicht gewollt war. Das Abitur sollte nicht abgewertet werden. Wenn sich am 19. Mai erstmals wieder Kandidaten für das Medizinstudium über die Testbögen beugen, gibt es einen wichtigen Unterschied zu damals: Der Bewerber trägt die Kosten für den Test selbst – 50 Euro. Die Ergebnisse der von der Firma ITB-Consulting entwickelten Analyse werden an den meisten medizinischen und zahnmedizinischen Fakultäten Baden-Württembergs berücksichtigt, beispielsweise in Heidelberg, Mannheim und Freiburg. Wer ein gutes, überdurchschnittliches Testergebnis hat, kann seine Chancen auf einen Studienplatz erhöhen. Schlechte Ergebnisse gehen nicht in die Bewerbungen ein. Die Teilnahme ist nur einmal erlaubt, damit sich die Kandidaten nicht an Aufgaben und Testsituation gewöhnen und nur deshalb besser abschneiden.

2004 wurde das Hochschulrahmengesetz geändert. Seitdem können die Universitäten ihre StudentInnen zu 60 Prozent selbst auswählen. Nur in Baden-Württemberg sind sie per Gesetz gezwungen, in allen Fachbereichen mindestens zwei andere Kriterien als die Abiturnote zu berücksichtigen. „Um eine möglichst objektive Auswahl der Studienbewerber gewährleisten zu können, haben wir uns für eine Kombination von Abiturnote und Medizinertest entschieden“, sagt Martina Kadmon, Koordinatorin für Studierendenauswahl an der Uni Heidelberg. Die Daten aus der Zeit vor 1997 zeigten, so Kadmon, dass die Verknüpfung von Testergebnis und Abinote den Studienerfolg am zuverlässigsten prophezeie. Wer in beidem gut abgeschnitten habe, breche selten ab. Deshalb sei der Test wieder eingeführt worden.

Dem kann Heinrich Wottawa, Professor für Diagnostik und Evaluation an der Ruhr-Universität Bochum, zustimmen. Die Tests seien seriös entwickelt, sie führten durchaus zu einer zuverlässigen Auswahl – wenn man messbare Ergebnisse abfragen möchte. Dennoch sieht der Eignungsdiagnostiker im Medizinertest nicht viel mehr als „Mangelverwaltung auf etwas besserem Niveau“. Der Test garantiere zwar, dass sich in Medizin weiterhin die schlausten Abiturienten tummeln – doch Bewerber mit schwerer messbaren Stärken fallen raus. Ist das sinnvoll? Bedarf es vor allem kognitiver Fähigkeiten, um Arzt zu werden? Zudem führe die Auslese nach kognitiven Leistungskriterien dazu, dass der Anteil leistungsstarker Abiturienten in den beliebten Fächern am größten ist. Für schwächere Bewerber bleiben die unbeliebten Fächer, auch wenn dort besonders hohe intellektuelle Anforderungen bestehen. Wottawa: „Das sind Kämpfe am völlig falschen Ende.“

Wenn in fünfzehn Städten am Samstag der Medizinertest stattfindet, müssen alle Kandidaten dieselben Fragen beantworten: Aufgaben zu räumlichem Denk- und Konzentrationsvermögen oder zu medizinisch-naturwissenschaftlichem Grundverständnis. Keine Rolle spielen soziale Fähigkeiten, allgemeine Persönlichkeitsmerkmale und Motivation. Wer den siebenstündigen Test – mit einer Stunde Pause – hinter sich bringt, beweist in jedem Falle eins: Durchhaltevermögen .

Knapp 7.200 Bewerber wollen via Test ihre Chancen auf die 629 Studienplätze erhöhen, die über das Auswahlverfahren der Hochschulen in Baden-Württemberg vergeben werden. Ob Teilnehmer, die mit einer mäßigen Abiturnote ins Rennen gehen, ihre Aussichten durch den Test tatsächlich erhöhen, ist allerdings fraglich. Die Gewichtung der Testergebnisse variiert an den einzelnen Universitäten. In Heidelberg fließt ein gutes Testergebnis mit 39 Prozent in die Bewerbung ein, in Ulm mit 49 Prozent. In Freiburg können die Studienbewerber ihre Abiturnote um maximal 0,5 verbessern, wenn sie zu den 10 Prozent Testbesten gehören. Keine leichte Aufgabe, denn der Numerus clausus lag in Freiburg 2006 bei 1,0 – mit einem Abitur von 1,6 oder schlechter hilft auch das beste Ergebnis im Medizinertest in Freiburg nichts.

Bewerber wie Julia Müller und Markus Hoffmann fragen sich daher inzwischen, warum sie überhaupt am Test teilnehmen. Mit abgeschlossener medizinnaher Berufsausbildung wartet Julia jetzt seit drei Jahren auf einen Studienplatz. Mit einem Abitur von 2,2 sind ihre Chancen auch mit Medizinertest relativ gering. „Ich warte darauf, dass endlich die Menschen hinter den Bewerbungen betrachtet werden, nicht nur irgendwelche Noten und Testergebnisse.“ Markus hat seine Ausbildung als Rettungssanitäter fast fertig, aber eine schlechtere Abinote als Julia. „Die Testgebühr ist eigentlich rausgeschmissenes Geld, Hoffnungen auf einen Studienplatz mache ich mir dadurch nicht.“

Auch Heinrich Wottawa schätzt, dass die Testergebnisse zu einer Verschiebung von nur wenigen Prozent führen werden, wenn weiterhin die Abiturnote so stark gewichtet wird. Die Studienplätze werden weiterhin den guten Abiturienten zufallen, nur aus dieser Gruppe eben jenen, die zusätzlich besonders gute Testergebnisse erbracht haben, vermutet der Eignungsdiagnostikexperte. „An der Zusammensetzung der Studierenden wird sich wenig ändern“, so Wottawa.

Besser als der Mix von Test und Abiturdurchschnitt sei die individuelle Auswahl der Bewerber, zum Beispiel mit Hilfe von Bewerbungsgesprächen. Gebraucht würde ein wesentlich aufwändigeres Auswahlsystem der Hochschulen mit einem Fokus auf die Beratung der Bewerber. „Wir müssen wegkommen von der Auswahl der Notenbesten zu einer Auswahl von den Abiturienten, die zu dem Fach aufgrund ihrer individuellen Fähigkeiten und Interessen am besten passen.“

Trotzdem gab es in der baden-württembergischen Koordinierungsstelle schon vor dem Neustart des Medizinertests am Samstag Anfragen aus anderen Bundesländern. Und so wird in Zukunft vermutlich wieder die Mehrheit der Medizinstudierenden mit Hilfe von Tests ausgesiebt. Nicht nur das: Geht es nach den Testentwicklern von ITB-Consulting, sollen auch andere Fachbereiche ihre Studenten mit Hilfe standardisierter ITB-Tests auswählen. Die Hochschulrektorenkonferenz jedenfalls unterstützt die Hochschulen auf dem Weg, „in Zusammenarbeit mit der ITB Consulting GmbH entsprechende Testverfahren für weitere Studienfelder einzusetzen“.