Liberté, Autorité, Absurdité

Frankreichs Ideale riechen aus dem Mund des neuen Präsidenten Nicolas Nassforsch

Bei der Siegesfeier auf der Place de la Concorde sang die Mumie des Schnulzengesangs

Man weiß gar nicht, bei welchem Käse man beginnen soll. Vielleicht bei diesem: „Vorwärts, Kinder des Vaterlandes … Zu den Waffen! … Lasst uns marschieren, auf dass unreines Blut unsere Ackerfurchen tränke!“ Dies sind nicht etwa die Worte, mit denen Hoffmann von Fallersleben („Morgen kommt der Weihnachtsmann“) die verschollene vierte Strophe seines Deutschlandliedes beginnen lässt, nein, es sind die Zeilen, die der Franzose herunterkräht, bevor er ein Länderspiel bestreitet, nachdem er Olympiasieger geworden ist und während er seinen neuen Präsidenten feiert.

Dass ausgerechnet Mireille Mathieu am vorletzten Sonntag die Marseillaise anplärrte, als sie auf der Place de la Concorde vor 30.000 Patrioten dem Sieger der Wahlen huldigte, hat etwas schaurig Symbolisches: Wer dieser Mumie des Schnulzengesangs, die ihr Alter und Geschlecht bereits ante mortem abgestreift hat, beim Skandieren der französischen Nationalhymne zusah, konnte meinen, sich im Jahrhundert geirrt zu haben. So ungefähr muss Robespierre überzeugt haben, als er auf dem Weg zur Guillotine ein letztes Mal „Lang leben Freiheit und Gerechtigkeit!“ brüllte.

Seitdem sind 213 Jahre ins Land gegangen. Und das scheint kein bisschen weiser. Nach wie vor grölt man ein Schlachtlied, als gelte es, die Fünfte Republik vor Juan Carlos und Lizzy Zwo zu beschützen. Nach wie vor ist ein autoritärer Regent niemandem Rechenschaft schuldig, als gelte es, die Volksverräter in Parlament, Regierung und Justiz in Schach zu halten. Und nach wie vor führen humorlose Korinthenkacker à la Robespierre die Ideale der Republik ad absurdum: Egalité heißt in Frankreich, dass sämtliche Präsidentschaftskandidaten in den letzten fünf Wochen vor der Wahl dieselbe Redezeit in Radio und Fernsehen bekommen müssen, und zwar auf die Sekunde genau. Dies führt dazu, dass der Vertreter der Fischer, Jäger und Sammler seinen Rhabarber in gleicher Länge wiederkäut wie Madame Royal ihre Programmhülsen – nicht dass Letzteres wesentlich erträglicher wäre, aber man stelle sich einmal vor, die Bibeltreuen Christen hätten vor einer Bundestagswahl jede Sendung der „Tagesthemen“ in den Schlaf zu beten, die doch eigentlich nur das Interview mit Frau Merkel bringen wollte.

Und künftig wird’s noch käsiger. Der neu gewählte Präsident, dessen dummdreiste Propaganda jeden Markus Söder zum Schusterjungen degradiert, darf fürderhin seine Mottentruhe öffnen: Unter Brüderlichkeit versteht Monsieur Sarkozy vor allem „Respekt“ – Respekt gegenüber Autoritätspersonen und Respekt gegenüber dem Vaterland. „Wenn der Lehrer den Klassenraum betritt“, so eine seiner zentralen Wahlkampfdrohungen, „haben die Schüler aufzustehen“, sodann vermutlich niederzuknien und das Spielchen bis zum Pausengong fortzusetzen, womit sich ja seine Forderung nach „mehr Sport in der Schule“ erfüllte. Das schönste Versprechen aber lautet: „Entweder liebst du Frankreich oder du verlässt Frankreich.“ Und wohin sollen sie dann, all die Minderverliebten? Es dem alten Skeptiker de Gaulle nachmachen und ins Londoner Exil gehen?

Auch im Namen der Gleichheit hat Nicolas Nassforsch einiges parat. Seine Antwort auf Mietenwucher und Wohnungsmangel ist atemberaubend simpel: „Ich möchte, dass die Franzosen wieder ein Volk von Eigentümern werden, und der Staat wird sie dabei unterstützen.“ Na prima, also einfach kaufen, nichts leichter als das, vor allem in Paris, wo der Quadratmeterpreis bei etwa anderthalb Milliarden Euro liegt, aber dafür gibt’s dann ja Zuschüsse von Monsieur le Président. Und ganz zu schweigen von der Hilfe für „16-jährige Wiederholungsstraftäter“, die „ab sofort nach Erwachsenenrecht verurteilt werden“ und dadurch umso länger freie Kost und Logis genießen.

Was schließlich die Freiheit betrifft, so ist der Mann schon gar nicht auf den Mund gefallen und in Sekundenschnelle auf seiner Lieblingsbaustelle: „Mehr arbeiten, um mehr zu verdienen.“ Die von den Sozialisten eingeführte 35-Stunden-Woche will er zwar beibehalten, jedoch nur als „Minimum“. Man male sich das einmal aus. Der Chef zu seinen Angestellten: „Unser Betrieb wird die Wochenarbeitszeit auf 40 Stunden erhöhen, alle unter Ihnen, die guten Willens sind, dürfen auch gern steuerfrei Überstunden machen. Wer so frei ist, mir zu folgen, ist weiterhin herzlich willkommen, wer am Minimum klebt, darf auf einen guten Anwalt hoffen.“

Schon bald werden sich die Franzosen nach Zeiten zurücksehnen, in denen ein etwas blasierter älterer Herr sie weitestgehend in Ruhe ließ und ihnen lediglich zweimal im Jahr zunäselte: „Vive la République (Kunstpause) – et vive la France!“

ROLAND BURSCH