Nepper, Schlepper, Männerfänger

Im Bordell gibt es nur ein Opfer: das ist der Mann. Das hat Thomas Brussig herausgefunden. Als Reporter hat er sich ins Berliner Rotlichtmilieu gewagt und kam als schlecht gelaunter Biedermann wieder heraus

Man muss sich Thomas Brussig als einen schüchternen Menschen vorstellen. Er ist so schüchtern, dass ihm nicht nur das Anbändeln in freier Wildbahn schwer fällt. Selbst in Etablissements, in denen man um den weiblichen Körper nicht werben, sondern einfach nur für ihn bezahlen muss, will er noch nie einen Fuß gesetzt haben. Und das mit Anfang vierzig.

Man muss sich Thomas Brussig also auch als einen hochanständigen Menschen vorstellen. Bis ihn eines Tages die BZ anruft. Er soll – gegen gute Bezahlung, versteht sich – als potenzieller Freier das Berliner Rotlichtmilieu erkunden.

Pikant, pikant. Könnte man denken, ist es aber eigentlich nicht. Denn um es gleich vorwegzunehmen: Der Autor kommt unbefleckt aus diesem Einsatz in der Wirklichkeit zurück. Wie er standhaft die Hoheit über seine Gürtelschnalle verteidigt, kann man in dem Band „Berliner Orgie“ nachlesen, in dem die Reportagen seiner nächtlichen Streifzüge versammelt sind.

Brussig nähert sich den Orten der Lust flanierend. Er spaziert den bekannten Strich an der Oranienburger Straße entlang, wo man mit dem nötigen Sicherheitsabstand mit den Prostituierten ins Gespräch kommen kann. Dann geht er in ein erotisches „Laufhaus“ im Wedding. Auch hier kann der männliche Besucher die Angebote weiblicher Körper im Vorbeigehen inspizieren und immer noch schnell den Rückzug antreten. Dieser selbst verordnete Rückzug, bevor es zu irgendetwas kommt, bestimmt auch alle anschließenden Erkundungen Brussigs.

Weil er weiß, dass weder Vorhersehbares noch Überraschendes passieren wird, sitzt der Autor also mehr oder weniger gelangweilt an den Bars der spärlich besuchten Tabledance-Bars am Stuttgarter Platz oder in Schöneberger Pornokinos, trinkt Cola oder Kaffee und ärgert sich darüber, dass die Damen des Hauses ihm einen Piccolo nach dem anderen aus den Rippen leiern. Das kann er zwar unter Spesen verbuchen. Aber Brussig geht es ums Prinzip. Denn es bleibt ja nicht bei den hohen Getränkepreisen.

Auf dem Zimmer, für dessen halbstündigen Besuch Brussig den relativ konstanten Preis von 70 € ermittelt hat, geht das Gefeilsche weiter: Ausziehen, Anfassen, alles kostet extra und wird dem männlichen Bordellbesucher schamlos aus der Tasche gezogen. Und so kommt Brussig bald zu dem Schluss: Prostitution, das ist eine einzige „Abzocke“. Gibt es noch ein anderes Gewerbe – jetzt echauffiert er sich geradezu –, „bei dem der Kunde so wenig Chancen zur Reklamation hat?“

In den letzten Jahren war es vor allem Michel Houllebecq, der sich alle Mühe gegeben hat, sich zum bad boy in Sachen Pornografie und käuflichem Sex zu stilisieren. Houllebecqs ausufernde Beschreibungen geschlechtlicher Verrichtungen konnte man provokativ finden oder einfach nur langweilig. Eher ratlos macht dagegen, was Brussig mit zunehmend schlechtgelaunter Biedermannattitüde vorträgt. „Billig, aber sauber“ oder „sensationelle Hygiene“ sind die höchsten Auszeichnungen, die ein Bordell bei Brussig abbekommen kann.

Deshalb muss man sich den Orgiasmusfaktor der „Berliner Orgie“ ungefähr so vorstellen, als würde jemand auf den Balkon rennen, „ficken, ficken, ficken“ rufen und sich dann kichernd und mit roten Ohren wieder neben die Chipstüte auf die Couch schmeißen. Gerade als weiblicher Leser hätte man gern mehr erfahren über diese Orte, zu denen einem der Eintritt verschlossen bleibt. Und natürlich über die männliche Faszination, die von ihnen ausgeht. Aber dem entzieht sich Brussig und bekundet lieber ein ums andere Mal seine moralische Integrität: Sex gegen Geld, das findet er eben einfach nicht in Ordnung.

WIEBKE POROMBKA

Thomas Brussig: „Berliner Orgie“. Piper Verlag, München 2007, 205 Seiten, 16,90 €