Prozesswelle gegen Dissidenten in Vietnam

Regimekritiker werden zu mehrjähriger Haft verurteilt. Nächste Woche besucht Bundespräsident Horst Köhler Hanoi

BERLIN taz ■ Das Urteil war quasi schon vorweggenommen, als vietnamesische Behörden den Dissidenten Nguyen Van Dai letzte Woche im Staats-TV in Sträflingskleidung vorführten. Gestern wurde der 38-jährige Anwalt vom Volksgericht in Hanoi zu fünf Jahren Haft und anschließend vier Jahren Hausarrest verurteilt. Seine 27-jährige Kanzlei-Partnerin Le Thi Cong Nhan muss für vier Jahre ins Gefängnis und drei Jahre unter Hausarrest. Beiden Anwälten, die mit Interviews in westlichen Medien das Ansehen Vietnams im Ausland herabgewürdigt haben sollen, wurde im März die Rechtsanwaltszulassung aberkannt. Dai und Cong Nhan haben fast alle juristisch vertreten, die wegen politischer Delikte belangt wurden: katholische Priester, Angehörige ethnischer Minderheiten oder des neu gegründeten Unabhängigen Gewerkschaftsverbands.

Die beiden haben sich aber auch selbst politisch betätigt. Sie sind Mitinitiatoren des „Appells der 118“, der den friedlichen Übergang zum Mehrparteiensystem fordert. Die Unterzeichner sehen sich in der Tradition der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, der Französischen Revolution und der Unabhängigkeitserklärung von Ho Chi Minh von 1945. Vor allem Letzteres ist für die KP-Führung, die den Alleinvertretungsanspruch an das Erbe des Revolutionshelden für sich reklamiert, nicht akzeptabel.

Als der Appell vor einem Jahr veröffentlicht wurde, herrschte Tauwetter in Vietnam. Die KP bereitete ihren Parteitag vor. In den Medien lieferten sich Funktionäre kontroverse Diskussionen über die Rolle des Geheimdienstes, über das Verhältnis zu China oder über die vernachlässigte Umwelt. Nachdem Vietnam den Gipfel der Asiatisch-Pazifischen Wirtschaftsgemeinschaft Apec ausgerichtet und sich nach langen Verhandlungen seine Zugehörigkeit zur Welthandelsorganisation gesichert hatte, war jedoch Schluss mit der Offenheit.

Im Vorfeld der Parlamentswahlen in einer Woche hat eine seit den 80er-Jahren nicht gekannte Repressionswelle eingesetzt. Mehr als 20 Dissidenten sind nach Angaben von amnesty international in den letzten Monaten festgenommen worden. Der Bekannteste, Pater Nguyen Van Li, war Ende März zu 8 Jahren Haft verurteilt worden. Über drei weitere Aktivisten wurde vorgestern ein Strafmaß von drei bis fünf Jahren verhängt.

Die Internationale Gesellschaft für Menschenrechte appellierte gestern an die EU, im Rahmen des Menschenrechtsdialogs mit Vietnam die Prozesse ohne diplomatische Rücksichten zu thematisieren. Gelegenheit dazu gibt es bald: Vom 21. bis 23. Mai wird Bundespräsident Horst Köhler das südostasiatische Land besuchen. MARINA MAI