Wind oder Atom?

Osteuropäische Staaten meinen, sich erneuerbare Energien nicht leisten zu können. Tatsächlich ist die Erzeugung von Atomstrom jedoch teurer

AUS BRÜSSEL DANIELA WEINGÄRTNER

In Brüssel blühen die Magnolien. In den noch kahlen Buchen schreien die Papageien. Genau der richtige Rahmen für ein EU-Gipfeltreffen, bei dem klimaschonende Maßnahmen ganz oben auf der Tagesordnung stehen. Denn Politiker sind eben auch nur Menschen. Erfahrbare Wetterphänomene bringen sie eher zum Nachdenken als abstrakte wissenschaftliche Berichte über die Entwicklung des Weltklimas.

EU-Ratspräsidentin Angela Merkel holt die in der Berliner Koalition vorsichtig ausgesparte Atomdebatte bei ihrem ersten Gipfel in Brüssel ein. Während viele Linke und Grüne in Deutschland stillschweigend davon ausgehen, das Atomzeitalter sei zu Ende, feiert es in anderen EU-Staaten fröhliche Auferstehung. Vor allem in Osteuropa erhofft man sich von neuen AKWs mehr Unabhängigkeit von russischem Öl und Gas. Die Slowakei, Rumänien und Bulgarien wollen ihre Kapazitäten ausbauen. Die baltischen Staaten planen zusammen mit Polen ein gemeinsames Kraftwerk im litauischen Ignalina.

Die Franzosen beziehen 70 Prozent ihres Stroms (und 40 Prozent der gesamten Energie) aus AKWs und möchten sich das in ihrer CO2-Bilanz gutschreiben lassen. Ratspräsidentin Angela Merkel hingegen will 20 Prozent erneuerbare Energien bis 2020 als verbindliches Ziel in die Schlusserklärung schreiben. Dem wollen die Franzosen nur zustimmen, wenn der Atomstrom darauf angerechnet werden kann.

Frankreich plant derzeit ein neues AKW. Nur zwei Konzerne weltweit können die Hauptkomponenten dafür liefern, die deutsch-französische Framatome-Siemens-Gruppe (Areva NP) und Nippon Steel in Japan. Die Zulieferbetriebe sind über die ganze Welt verteilt. Den Druckwasserbehälter zum Beispiel gibt es nur bei Nippon Steel. Der amerikanische Energieberater Jim Harding beobachtet seit Jahren, dass Fachleute für diese Technik knapp werden. Das erhöht seiner Ansicht nach die Störanfälligkeit.

Die ehemalige finnische Umweltministerin Satu Hassi, deren Partei 2002 aus Protest gegen den Bau eines neuen Meilers aus der Regierung ausgetreten war, erzählte bei einer Anhörung der Grünen zum 50. Jahrestag des Euratom-Vertrags wahre Horrorgeschichten von der finnischen Baustelle: Die indische Baugesellschaft, die mit dem Guss des Betonbodens betraut war, sei sich über die Wetterbedingungen nicht im Klaren gewesen. „Sie wussten nicht, dass es in Finnland kälter wird als in Indien.“ Die Sicherheitskultur des deutsch-französischen Areva-Konzerns, der als Bauherr auftritt, entspreche „dem Standard eines Entwicklungslandes“. „Sie sind nicht mehr an europäische Standards gewöhnt, weil es so lange her ist, dass sie in Europa gebaut haben.“

Den finnischen Wählern sei das AKW mit dem Argument schmackhaft gemacht worden, es werde ausschließlich privat finanziert. Schon jetzt seien die Kosten 700 Millionen Euro höher als geplant. „Die Verluste muss bestimmt der Steuerzahler tragen“, vermutet Hassi. Auch am Bau eines Reaktors in Bulgarien ist Areva-Siemens beteiligt. Der Konzern lässt aber zur Beruhigung mitteilen, es handle sich nicht um den „Tschernobyl-Bautyp“. Zuletzt überraschte Areva mit der Ankündigung, das Unternehmen wolle den Windanlagenbauer Repower übernehmen. „Dort ist wohl die Rendite besser“, vermutet Hassi sarkastisch.

Mycle Schneider, Autor einer „Störfallbilanz seit dem Tschernobyl-Unfall 1986“, zeigte in der Anhörung in Brüssel auf, wie knapp Europa mehrfach an der Katastrophe vorbeigeschrammt ist. Als am 27. Dezember 1999 der Sturm „Lothar“ das Wasser über die Deiche trieb, wurde im AKW Blayais 2 bei Bordeaux die gesamte Elektrik überflutet und der Strom fiel aus. Die Rettungsteams konnten wegen des Unwetters nicht ausrücken. Das mit Diesel betriebene Notstromaggregat stand ebenfalls unter Wasser.

Diese Risiken, die durch extreme Wetterlagen und terroristische Bedrohungen noch erhöht werden, haben die Energiegewinnung aus Kernspaltung in den Augen vieler Europäer diskreditiert. Und billig ist der Strom, anders als osteuropäische Regierungen argumentieren, auch nicht, wie Jim Harding in Brüssel vorrechnete: Denn auf den in Studien des Internationalen Atomverbandes genannten Preis von 2 bis 3 US-Cent pro Kilowattstunde müssten eigentlich die Kosten für Lagerung und Entsorgung aufgeschlagen werden. Rechnet man außerdem die staatlichen Subventionen ab, kommt man auf einen Preis von 11 US-Cent pro Kilowattstunde. Windkraft hingegen kostet 5 bis 7 Cent, Energiesparmaßnahmen zwischen 0 und 4 Cent.

Angela Merkel hätte ihren Amtskollegen aus Frankreich und Osteuropa also viel entgegenzuhalten, wenn sie ihren viel gepriesenen naturwissenschaftlichen Verstand in die Waagschale werfen würde. Das Geschäft mit der Kernkraft ist für private Unternehmen nur noch interessant, weil es von den Nationalstaaten und von der EU hoch subventioniert wird und weil die Gesellschaft das Risiko trägt. Doch die Mittel werden anderswo dringend gebraucht: für mehr Energieeffizienz und für die Weiterentwicklung erneuerbarer Energien.