Die Uhr tickt falsch

Die Korrektur der Erinnerung: Heute Abend liest Emma Braslavsky im LCB aus ihrem Roman „Aus dem Sinn“ über die Sudentendeutschen in der DDR

VON WIEBKE POROMBKA

Matroschkas heißen die kleinen russischen Steckpüppchen, die nach der Wende wie warme Semmeln über die Flohmarkttische am Checkpoint Charlie gingen. Wie so eine Matroschka funktioniert das Romandebüt „Aus dem Sinn“ der jungen Berliner Autorin Emma Braslavsky: Immer neue Püppchen schraubt sie auf und immer neue Teile einer Geschichte kommen darin zum Vorschein.

Es ist eine Geschichte über die deutsche Vergangenheit, die Braslavsky erzählt. Und wie fast immer, wenn es um die deutsche Vergangenheit geht, ist das Thema nicht ganz unbelastet. Schauplatz des Romans ist Erfurt in den Sechzigerjahren, wo nach dem Krieg eine kleine sudetische Gemeinde entstanden ist. „Umsiedler“ nannte man diese Menschen im offiziellen Sprachgebrauch der DDR. „Vertriebene“ durfte es im Verbund der sozialistischen Bruderstaaten natürlich nicht geben.

Zwar haben sich die Älteren mit ihren Erinnerungen und mit ihren kulinarischen Traditionen ganz passabel in ihrem Erfurter Viertel eingerichtet. Die Jüngeren aber melden Ansprüche auf jene Gebiete an, die sie als Kinder verlassen mussten. Solcher Revisionismus ist dem Protagonisten von Braslavskys Roman, Eduard, eigentlich fremd. Er ist nicht nur Spezialist für Primzahlen, sondern auch passionierter Uhrenliebhaber, bei dem sich umgehend Nervosität einstellt, wenn eine Uhr in seiner Umgebung der Zeit hinterher tickt.

Dass es trotzdem gerade Eduard ist, dessen innere Uhr zurückgedreht wird, liegt weniger an den agitatorischen Qualitäten seines Freundes Paul als an Eduards Unbedarftheit. Bevor er so recht weiß, wie ihm geschieht, hat Paul ihn auf eine Kundgebung auf den Prager Wenzelsplatz geschleift. Eigentlich soll hier, ein Jahr nach dem Prager Frühling, der tschechoslowakische Sieg über die Eishockeymannschaft der UdSSR gefeiert werden. Eine Handvoll Sudentendeutscher dreht die Veranstaltung aber kurzerhand um. „Die Sudenten fordern historische Gerechtigkeit und territoriale Unabhängigkeit“ steht auf dem Plakat, für das Eduard und Paul am Ende verhaftet werden. Vor die Wahl gestellt, zehn Jahre im Gefängnis abzusitzen oder sich zwischenzeitlich für verrückt erklären zu lassen, entscheidet Eduard sich für den Aufenthalt in der Psychiatrie.

Während ihm dort das Gedächtnis mit einer Elektroschockbehandlung nach und nach weggefräst wird, legen sich dem Leser mehr und mehr Schichten der Vergangenheit frei. Szenen aus Eduards Heimatstädtchen Tuschkau, wo die nationalsozialistischen Besatzer ihr Unwesen trieben, gehören genauso dazu wie die Vertreibung der Familie, schließlich das Leben im ostdeutschen Erfurt.

Das Bild, das Emma Braslavsky auf diese Weise entstehen lässt, speist sich aus ihrer eigenen Familiengeschichte. Sie wurde 1971 in Erfurt als Kind sudetisch-schlesischer Eltern geboren und floh 1989 über Ungarn in den Westen. An dieser engen biografischen Bindung und an dem gleichzeitigen altersbedingten Abstand, den Braslavsky zu ihrem Gegenstand hat, mag es liegen, dass „Aus dem Sinn“ kein bemühter Thesenroman ist, der sich im Diskurs deutscher Vergangenheitsbewältigung positionieren will.

Das ist fast ein Wunder, nachdem es angesichts der Öffentlichkeitsarbeit der Vertriebenenverbände und ihrer revanchistischen Logik lange Zeit literarisch geradezu verboten war, unverkrampft über „Sudetendeutsche“ und über die Vertreibung der Menschen nach dem Zweiten Weltkrieg zu sprechen. Dass Braslavsky das tun kann, liegt aber nicht nur an ihrer Zugehörigkeit zu einer Generation, die auf die Erinnerung an diese fernen Länder und Zeiten nicht mehr mit dem reflexhaften Anspruch auf Rückkehr reagiert. Es liegt vor allem an ihrem erzählerischen Talent, mit dem sie ein phantastisch skurriles Ensemble von Figuren entwirft, die alle auf heillose und tragikomische Weise in das Netzwerk der deutschen Geschichte verstrickt sind.

Manchem mögen die Mengen an Nordhäuser Korn und böhmischem Apfelstrudel, die dabei zu allen Gelegenheiten konsumiert werden, etwas zu viel des Guten sein. Man muss es mit diesem Roman aber mitunter auch halten wie die Matroschka-Käufer vor dem Checkpoint Charlie: Ein bisschen Wille zur Nostalgie gehört schon dazu. Den bringt man allerdings nur allzu gern mit, wenn man auf eine junge Autorin trifft, deren Blick über den üblichen Tellerrand der eigenen Wohngemeinschaftbefindlichkeit hinausgeht.

Emma Braslavsky: „Aus dem Sinn“. Claassen Verlag, Berlin 2007, 368 Seiten, 19,95 €ĽHeute Abend Lesung im Literarischen Colloquium Berlin, 20 Uhr, und am 10. März in der Volksbühne