Sinnsuche an der Reistafel

In der Großen Halle des Volkes ruft Premier Wen die Chinesen zu weiteren Großtaten auf In Mengs Restaurant gibt es statt Parteitagsreden jeden Morgen konfuzianische Vorlesungen

AUS PEKING GEORG BLUME

Gestern Morgen, 9 Uhr: In China gehen die Fernseher an. Es beginnt die Direktübertragung aus der Großen Halle des Volkes in Peking, Premierminister Wen Jiabao spricht zum Volkskongress. Einmal im Jahr macht er das. Er erklärt dann sein Regierungsprogramm, nennt Erfolgszahlen, geißelt die Korruption. In diesem Jahr stellt er das Thema Umwelt in den Mittelpunkt. Ökologisches Handeln müsse „zur zweiten Natur jedes Unternehmens, jedes Dorfes, jeder Organisation und jedes einzelnen Mitglieds der Gesellschaft werden“, ruft der Regierungschef den 3.000 Delegierten über ein großes Blumengesteck mit rosafarbenen Lilien zu.

Der Rede des KP-Führers zu lauschen ist ein altes, noch aus den Tagen Mao Tse-tungs stammendes Ritual in der Volksrepublik. Selbst Chinesen, die sich sonst nicht für Politik interessieren, legen ihre Arbeit beiseite und hören zu.

Umso ungewöhnlicher ist, was gestern Morgen, ebenfalls um 9 Uhr, im Zentrum Pekings geschieht. Im aufwändig ausgestatteten Saal des ersten konfuzianischen Restaurants der Hauptstadt rücken die Angestellten die modernen weißen Tische zusammen. Sie reihen die Stühle, die im Stil der alten Ming-Zeit gebaut sind, in mehreren Reihen vor einer großen Fernsehleinwand auf. Dann setzen sie sich: die Empfangsdamen in gelben Hemden und schwarzen Röcken, die Chefkellner in hellbraunen Seidenanzügen, die Serviermädchen in roten Baumwollkleidern, die Putzfrauen in einfacher Arbeitskleidung und die Köche mit ihren hohen weißen Kochmützen. Sie gucken nicht Volkskongress. Stattdessen legt ihre Chefin, die Gastwirtin Meng Danmei, eine DVD des konfuzianischen Predigers Wang Caigui in den Player.

In seiner Heimat Taiwan ist Wang sehr populär. Auf der Leinwand wirkt er wie ein strebsamer Oberschüler, er grinst ohne Unterbrechung in die Kamera. Seine Sätze sind klar und verständlich: „Die Eltern müssen wissen, was für ihr Kind wichtiger ist: gute Noten in der Schule oder die höfliche Begrüßung von Gästen“, doziert Wang. Natürlich sind für den Konfuzianer Wang „gute Gewohnheiten wichtiger als gute Noten“. Erstaunt hören ihm die Restaurantangestellten zu.

Im Fernsehen hingegen predigt der Premier derweil genau das Gegenteil. Wen spricht von den „wichtigen Erfolgen der gesellschaftlichen Entwicklung“, und er rühmt die „große Verbesserung im Leben des Volkes“. Seine Rede hört sich an, als wolle er sich, seiner Partei und dem Land gute Noten erteilen. Von Chinas Traditionen, etwa der zurückhaltenden konfuzianischen Höflichkeit, ist in seiner Rede wenig zu spüren. „Lasst uns bahnbrechend vorwärtsstreben und die Sache der sozialistischen Modernisierung mit vollem Einsatz nach vorn bringen“, schmettert der Premier vom Rednerpult des Volkskongresses. Das klingt, wie man es erwartet: kommunistisch und ganz unkonfuzianisch.

Im Pekinger Restaurant aber lässt sich Gastwirtin Meng nicht von Wens Rede irritieren. Für sie ist in China heute nicht der Kommunismus, sondern der Konfuzianismus auf dem Vormarsch. „Am wichtigsten“, sagt sie, „ist nicht, was unsere jetzige Führung denkt. Viel wichtiger für Chinas Zukunft ist, was unsere jungen Menschen denken.“ Nachdem sie die Konfuzius-DVD eingelegt hat, setzt Meng sich selbst zu ihren jungen Angestellten.

Jeden Morgen zwischen neun und zehn bittet sie das Personal zum Unterricht in konfuzianischer Ethik. Gemeinsam schauen sie DVDs an, lesen in den Werken der konfuzianischen Schule oder lernen die vereinfachten Texte auswendig. Zur Zeit der Anti-Konfuzius-Kampagne unter Mao Tse-tung Anfang der 70er-Jahre hätte man die Wirtin dafür ins Gefängnis gesperrt. Meng dient das heute als Ansporn: „Schon Konfuzius erhielt Drohungen von Fürsten, deren Sünden er niedergeschrieben hatte“, beruft sie sich auf den regierungskritischen Ansatz seiner Lehre.

Die 36-Jährige trägt eine hellgrüne, seidenbestickte Wolljacke mit traditionellem Rundkragen. Ihre glatten, hüftlangen Haare hat sie zu einem Knoten gebunden. Als Geschäftsführerin des Shi-Li-Chun-Qiu-Restaurantbetriebs ist sie für 200 Angestellte verantwortlich. Der Name kombiniert vier Schriftzeichen aus den Titeln der Werke Konfuzius’: Gedicht (shi), Höflichkeit (li), Frühling (chun) und Herbst (qiu). Neben dem Empfangstisch im Lokal hat Meng sämtliche Werke des Meisters zum Verkauf auslegen lassen. Außerdem einen Sammelband mit den Werken Shakespeares – weil sie den oft mit dem gleichen Gewinn wie Konfuzius gelesen habe, erklärt Meng.

In ihrem Restaurant lässt sie traditionelle vegetarische Küche servieren – wenn möglich aus Biogemüse, da es ihrer Meinung „sicher nicht im Naturverständnis von Konfuzius lag, wenn Bauern ihre Felder mit Gift bespritzen“. Eine konfuzianische Küche jedoch könne es genauso wenig geben wie einen eigenen konfuzianischen Glauben, erklärt Meng. Der Konfuzianismus sei eine Lehre „über den Religionen“, eine Vernunftsmoral, die gegenseitigen Respekt und Mitmenschlichkeit einfordere. Ob Christen, Muslime oder Ungläubige – jeder könne Konfuzianer sein. So gesehen könnte ein konfuzianisches Restaurant auch westliche Gerichte kochen – es komme vor allem auf die Bioqualität der Zutaten an. Und natürlich den Geist, in dem das Essen zubereitet und serviert würde: Der Bauer müsse auf dem Feld im Einklang mit der Natur arbeiten, der Koch müsse beim Schneiden des Gemüses den richtigen Rhythmus finden, die Bedienung den Geist der Höflichkeit verströmen. Wie denn wohl konfuzianisches Essen in Deutschland ankommen würde, will Meng wissen.

Sie ist in erster Linie Geschäftsfrau. Vor dreizehn Jahren fing sie als Inhaberin einer kleinen Garküche in Peking an. Heute gehören ihr Lokale in drei Provinzen, und sie plant ernsthaft, das Geschäft ins westliche Ausland auszuweiten. Dabei ist sie überzeugt, dass die Beschäftigung mit Konfuzius ihrem wirtschaftlichen Erfolg nicht im Wege stehe. Im Gegenteil, Konfuzius helfe beim Gewinnmachen, glaubt Meng. „Wo es Harmonie gibt, gibt es auch Reichtum“, sagt sie, und dass sie wohl wisse, dass der deutsche Soziologe Max Weber genau daran gezweifelt habe.

Meng lebt längst die gelungene Verbindung zwischen Konfuzianismus und Kapitalismus. So wie Konfuzius früher die Harmonie in Familie und Dorfgemeinschaft gelehrt habe, kümmere sie sich heute um die Harmonie in ihrem Unternehmen, erklärt sie. Sie sorge nicht nur für die Erziehung ihrer Angestellten, sondern auch für die ordentliche Unterkunft und pünktliche Bezahlung. Trotzdem haben gerade einige Mitarbeiter gekündigt. Nach Ende des morgendlichen DVD-Vortrags spricht Meng deshalb zu ihren Angestellten: „Überlegt euch gut, wenn ihr unsere Firma verlassen wollt. Es geht im Leben nicht nur um Geld, sondern auch um Zufriedenheit und den Sinn dessen, was man tut“, redet sie ihnen ins Gewissen.

Mengs Worte spiegeln ihre Kritik an der Kommunistischen Partei. Premier Wen spricht in seiner Rede vor dem Volkskongress gerade von den Hauptzielen der Regierung in diesem Jahr – die Wirtschaft soll um acht Prozent wachsen, die Zahl neuer Arbeitsplätze um neun Millionen, die Inflation nur um drei Prozent. Wen nennt ein Wachstumsziel nach dem anderen. Doch einen tieferen Sinn des Ganzen hat er nicht zu vermitteln. An dem mangelt es der KP, seit sie vor Jahren ihrer maoistisch-kommunistischen Ideologie abgeschworen hat.

Die Wirtin Meng aber hat die Sinnfrage für sich längst geklärt. „Wir Chinesen laufen heute Gefahr, unsere alte philosophische Tradition zu verlieren. Die aber ist ein großer Reichtum. Unsere wichtigste Aufgabe ist es deshalb, sie zu erhalten und an die nächste Generation weiterzugeben.“

Die Geschäftsfrau sieht sich als Teil dessen, was der emeritierte Philosophieprofessor der Pekinger Tsinghua-Universität, Qian Xun, ganz vorsichtig eine „konfuzianische Renaissance“ nennt. Der Begriff sei angesichts der nach wie vor großen Skepsis der Kommunisten gegenüber allem Religiösen noch etwas hoch gegriffen, aber der Trend gehe eindeutig dorthin, meint Qian. Er ist Pekings führender Konfuzianer, mit Meng befreundet und gelegentlich ihr Gast. Am liebsten isst er gebackenen Tofu mit sauer eingelegtem Blattgemüse und Reis.

Der 75-Jährige ist der Sohn des prominenten Konfuzianers Qian Mu. Im letzten Jahrhundert gehörte sein Vater zu den wichtigsten Vertretern eines vom westlichen Humanismus inspirierten Neokonfuzianismus. Für ihn und andere, die nach der Gründung der Volksrepublik 1949 in Taiwan oder in den USA lehrten, ist der Konfuzianismus eine Vernunftlehre, die sich westlichen Vorstellungen von Demokratie und Menschenrechten öffnen kann. „Demokratie und Wissenschaft stehen nicht im Widerspruch zur chinesischen Tradition“, zitiert Qian heute den Geist der Schule seines Vaters, „Harmonie bedeutet nicht falschen Gehorsam gegenüber den Mächtigen“. Nur wisse man eben: Demokratie sei eher eine westliche, Harmonie eher eine östliche Idee. Sein Vater aber habe, kurz bevor er 1990 starb, die Idee der Harmonie zwischen Mensch und Natur als wichtigste Lehre von Konfuzius bezeichnet – auch weil die westliche Philosophie von der Herrschaft des Menschen über die Natur zur Zerstörung der Umwelt führe, erläutert Qian.

Darin stimmt er mit Meng überein. „Der Klimawandel“ sagt sie, „zeigt doch das Scheitern des westlichen Modells. Mag sein, dass westliche NGOs heute die sinnvollsten Empfehlungen für den Klimaschutz geben, aber langfristig müssen wir alle unsere Geisteshaltung ändern.“ In diesem Sinne, davon ist sie überzeugt, müsse die ganze Menschheit von Konfuzius lernen.

Es ist dieser Universalismus, der Pekings neuen Konfuzianern ihr Selbstbewusstsein schenkt. Der Rede Wens lässt sich nichts Vergleichbares entnehmen. Er spricht von „einer schönen Perspektive unseres großen Vaterlandes“. Die Kommunisten sind in China heute Nationalisten, die Konfuzianer Internationalisten. Vielleicht ist ihre Küche bald auch im Ausland erfolgreich.