Widerstand, gespalten

Stuttgart 21 geht in die entscheidende Phase – und der Widerstand ist in seinem Kern gespalten. Das Aktionsbündnis und die Parkschützer driften immer weiter auseinander, keiner traut dem anderen mehr, eine gemeinsame Strategie ist nirgendwo erkennbar. Die Grünen haben Grund zu großer Sorge

Gemeinsam Widerstand Man kann die Spaltung sogar recht genau datieren: am 15. Oktober 2010 stiegen die Parkschützer während der Vorkonsultationen zur Schlichtung aus, weil es keinen konsequenten Baustopp während der Schlichtung geben würde. Zwar wurde diese Spaltung euphemistisch als Doppelstrategie verkauft (wir verhandeln – ihr protestiert), aber jedem halbwegs Wachen war klar, was das bedeutet. Eigentlich hätte allen Beteiligten klar sein müssen, dass nach dem 30. 9. und spätestens, als bekannt wurde, dass Heiner Geißler mit großem Bahnhof in die Stadt einreitet, höchste Gefahr im Verzug war. Wenn der Widerstand nach dem 30. 9. gestanden hätte „wie eine Eins“ (z. B. indem er sich nicht auf den recht durchschaubaren Politikzirkus eingelassen hätte, bevor nicht die für den 30. 9. Verantwortlichen festgestellt und zur Rechenschaft gezogen würden), hätte nach ein paar Tagen mehr vielleicht der Innenminister Rech zurücktreten müssen – weil etwa der öffent- liche und mediale Druck auf ihn so groß gewesen wäre, dass MP Mappus ihn als untragbare Belastung für den anstehenden Wahlkampf empfunden hätte… Diese Spaltung (die erst nach der Wahl ganz offen zu Tage trat) wieder zu überwinden kann nur gelingen, wenn man vorbehaltlos die Geschehnisse aufarbeitet; nicht um „die Schuldigen“ zu finden, sondern um daraus zu lernen. Und um dann wieder mit frischem Mut gemeinsam Widerstand gegen S 21 zu leisten. canislauscher

Grundübel Ich möchte in diesem Zusammenhang daran erinnern, dass sich Kretschmann schon vor dem Schwarzen Donnerstag als allzu kompromissbereit gezeigt hatte – erst der Widerstand gegen sein Gesprächsangebot an St. Mappus lies ihn zurückrudern. Spätestens ab diesem Zeitpunkt war der Widerstand gewarnt und Aktionen der Politik wurden kritisch beäugt. Vielen ist eins klar: einen Kompromiss kann es nicht geben, wozu also miteinander schwätzen, wenn das Ergebnis (es wird aber gebaut) schon feststeht? Ich empfinde dieses Verhalten, dieses „nicht eindeutige Stellung beziehen wollen“ bei einem Streit, der nur Hü oder Hott kennt, als Grundübel, das zur Spaltung führen musste. MCBuhl

von Josef-Otto Freudenreich

Der eine hat die nackten Füße in Trekkingsandalen, der andere die Porsche-Brille auf der Nase. Der eine hat so ziemlich alles durchlaufen, was verkniffen kommunistisch war, von der DKP bis zur PDS, der andere hat sich gegen alle Heilslehren aufgelehnt, nachdem seine Karriere als Oberministrant zu Ende war. Und beide sind Väter der Bewegung: Gangolf Stocker und Werner Wölfle. Die älteren Herren, 66 und 57 Jahre alt, waren es, die im Jahr 2007 das Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21 geschmiedet haben, jenen Kern des Protests, der die Stadt in der ganzen Welt berühmt gemacht hat.

Heute hockt Stocker im Cortijo hinterm Rathaus, lutscht seine Vivils, die er als junger Bursche mal selbst in einer Offenburger Fabrik gedreht hat, und schimpft wie ein Rohrspatz. Es ist ein Erlebnis, ihm zuzuhören, wie er über seine Nachkommen ablästert. Streng im Hintergrund, wie Journalisten zu sagen pflegen, wenn sie nicht zitieren können, aber doch vermitteln sollen, wie es im Inneren eines Gepeinigten aussieht. Der Spur nach könnte man danach behaupten, dass Stocker das Bündnis als toten Gaul, dessen Verwalter als Weicheier und deren Zeit als abgelaufen betrachtet. Kein Arsch in der Hose, keiner traut sich, auf den Tisch zu hauen, keiner schmeißt die Parkschützer raus, die nur noch ihr eigenes Ding drehen. Im Übrigen, sagt Stocker, habe er das Recht, beleidigt zu sein. Wie bekannt, ist der SÖS-Stadtrat nach der Landtagswahl aus dem Bündnis ausgestiegen, dessen Kopf er war. Sein neues Projekt heißt Volksversammlung auf dem Marktplatz. Der erste Gast am Mittwoch war Ministerpräsident Kretschmann. Und der hat sich vor 1.500 Stuttgarter Bürgern wacker geschlagen.

Trotz der vielen Prügel immer oben geblieben

Nun wäre es ein Leichtes zu sagen, hier sitzt ein verbitterter Vater, dem das Kind verloren gegangen ist. Aber so einfach ist das nicht. Keiner hat so lange gegen S 21 gebuddelt wie er, keiner hat so viele Prügel eingesteckt und ist trotzdem oben geblieben. Und wie viele Kröten muss dieser Mensch geschluckt haben, wenn er Stunden in seinem Debattierclub verbracht hat und schon zusammengezuckt ist, wenn die Grünen-Vertreterin zu einer ihrer gefürchteten Reden angesetzt hat. Oder wenn ein unentwegter Friedensaktivist aus Tübingen angedroht hat, zur Gitarre zu greifen und Mikis-Theodorakis-Lieder zu singen. Letzterem hat Stocker, als er noch eine Autorität im Aktionsbündnis war, dann doch Bühnenverbot erteilt. Einem wie ihm, dem gelernten Politzentralisten, muss diese gefühlsbewegte Basisdemokratie verdammt schwer gefallen sein. Er sei ein Kontrollfreak, gesteht Stocker, und nachtragend sei er auch. Darüber hat er wohl den Blick verloren für den großen Einsatz der anderen, die eben nicht so cool sind wie er.

Der andere, Werner Wölfle, sieht das lockerer. Auf der Terrasse des Plenums, der Landtagsgaststätte, wirft er den Spatzen Brotbrocken zu und erzählt, was er in seiner Post so gelesen hat. Vom „Verräter“ war da die Rede und vom „gnadenlosen Karrieristen“. Das war, nachdem er es gewagt hatte, das intellektuelle Niveau der Redebeiträge auf einer Montagsdemo zu kritisieren, woraus er messerscharf geschlossen hat, dass Kritik sofort bestraft wird. Das kennt der ausgebuffte Sponti aus alten Zeiten, in denen er als Zaungast früherer revolutionärer Umtriebe gelernt hat, dass am Ende die Sektiererei droht, mit der entsprechenden Begrifflichkeit. Also warum sich aufregen, wenn ein Déjà-vu-Erlebnis das andere jagt. Das Rein-raus-Spiel ist Wölfle, grüner Stimmenkönig in Stuttgart und nach wie vor Fraktionschef der Grünen im Gemeinderat, vertraut. Heute scheinbar Sozialbürgermeister, morgen scheinbar Verkehrsminister und übermorgen keines von beiden. Politik ist halt so. Ein vermintes Gelände.

Und weil das so ist, wählt auch Wölfle den Hintergrund. Bloß kein Öl ins Feuer gießen, bloß kein Zitat, an dem er später aufgehängt werden könnte. So lässt sich wiederum nur der Spur nach behaupten, dass er das Aktionsbündnis für einen desolaten Haufen hält, der dringend runderneuert werden müsste. Schluss müsse sein mit dem endlosen Debattieren, mit der alles entscheidenden Frage, wer auf der Bühne moderieren darf, und mit dem Umstand, dass alle mitredeten und dann verschwunden seien. Zurück zum BUND, zum Verkehrsclub Deutschland (VCD), zu Pro Bahn und zu den Parkschützern, deren Vertreter später sagen, so hätten sie's nun auch wieder nicht gemeint.

Das mag dem einen oder anderen als willkommene Rhetorikschulung erschienen sein, als Pflege des Egos dienen, das auch bei Basisdemokraten vorhanden sein soll. Man denke an die vielen Fotografen und Fernsehkameras. Aber es ist nicht im Sinne ihrer Erfinder. Denn die Lage ist ernst und erfordert einen Plan. Niemand weiß, wie Stuttgart 21 ausgehen wird. Viele warten derzeit ab, wie sich die neue Regierung verhält, verbunden mit der Hoffnung, dass sie in ihrem Sinne handeln wird. Entsprechend sinkt die Zahl der Demonstranten. Zu Hause verfolgen sie die dünnen Nachrichten über den Stresstest, der vor der Sommerpause erledigt sein soll und nach ihrem Ermessen scheitern muss. Ob dem so sein wird, darf zumindest mit Zweifeln belegt werden, auch wenn dem neuen Verkehrsminister Winfried Hermann zugetraut werden darf, dass er alles dafür tun wird. „Am Ende“, befürchtet Wölfle, „ist es eine Frage der Interpretation.“ Will sagen: die Befürworter werden das Ergebnis passend reden, die Gegner werden es als Beweis dafür heranziehen, was sie schon immer wussten. Dass S 21 eine Katastrophe ist.

Und dann kommt im Herbst die Volksabstimmung. Sie zu gewinnen dürfte ein Ding der Unmöglichkeit werden. Es sei denn, alle Parteien einigten sich auf eine Senkung des Quorums, wofür wenig spricht, oder der Protest nähme noch einmal so viel Fahrt auf, dass er das ganze Land erfasst und die Regierung zu entsprechendem Handeln zwingt. Es werde am Schluss, und darin sind sich die grünen Strategen einig, eine politische Entscheidung. Und eine solche fällt nicht im luftleeren Raum.

Wenn Verkehrsminister Hermann die Parkschützer hofiert, dann liegt genau darin der Grund. Er wird sie, so das Kalkül, irgendwann brauchen. Das Aktionsbündnis, in seinem derzeitigen Zustand, hilft da wenig. Von Montag zu Montag zu denken ist keine Strategie. Ob mit oder ohne Konstantin Wecker.

Das meint auch Matthias von Herrmann, der Sprecher der Parkschützer. Der 37-jährige Ex-Greenpeaceler mit dem Habitus eines Oberprimaners ist ein cleveres Kerlchen. Kein schlechtes Wort über die Faschingsgesellschaft Möbelwagen, deren Funkenmariechen über seinem Büro üben. Nichts Negatives über das Aktionsbündnis. Einmal war er dort, dann nie wieder. Seitdem hat er ein „gutes Verhältnis auf der Arbeitsebene“, was in etwa so glaubhaft ist wie Stefan Mappus' Liebe zu Günter Oettinger. Von Herrmann lädt den Verkehrsminister an den Bauzaun ein, lobt ihn als besten Experten ever, in den sie „große Hoffnungen“ setzten, und schon dankt Winfried Hermann für „Ausdauer und Geduld“ und sagt, die Parkschützer seien „frei, zu fordern“. So schnell wie die Pressemitteilung des Chefpropagandisten raus ist, kann der Grüne gar nicht gucken. Selbst Gangolf Stocker, der den Jungen nicht verputzen kann, rühmt seine medialen Fähigkeiten.

Baumkletterer, Veganer und Witwen vom Killesberg

Ein Kunststück ist das zweifellos. Zumal als One-Man-Show mit dissonantem Orchester. Man muss ja nicht von einer Stadtguerilla reden, wie Stocker das tut, und damit tief sitzende Ängste bedienen. Man muss nur in die Parkschützer reinschauen und wird schnell erkennen, dass hier keine straff organisierte Truppe am Werk ist. Baumkletterer, Attacler, Veganer, Perlenkettenwittwen vom Killesberg finden sich unter demselben Firmenschild mit Ingenieuren, Unternehmern und SPD-Linken gegen S 21 wieder und lassen von Herrmann sagen, was er sagen will. Das stört nicht weiter, weil auch die Vorgenannten machen, was sie wollen. Weil jeder etwas macht, ergibt das eine Kraft, die dem Aktionsbündnis abhanden gekommen ist.

Wölfle & Co. wissen das und wollen deshalb die Parkschützer nicht verlieren. Mit Stocker ging es nicht. Für ihn waren und sind sie eine wild gewordene Meute, die Bauzäune einreißt, keine Verantwortung und Verbindlichkeit kennt und damit den Widerstand im Kern gefährdet: das Friedliche im Bürgerlichen. Jetzt soll es Stockers Ziehsohn und SÖS-Stadtrat Hannes Rockenbauch richten. „Der Hannes glaubt, dass er im Bündnis noch etwas bewegen kann“, erläutert der Altmeister, „ich nicht.“ Die Frage ist freilich: wie?

Die Antwort kennt Rockenbauch auch nicht. Ob da noch etwas zu retten ist, ob er das Standing hat, die Abtrünnigen zu überzeugen? Der Zweifel steht ihm in den grünblauen Augen. Er teilt nur die Einschätzung der grünen Altvorderen, die das Bündnis auf neue Beine stellen und die Parkschützer heimholen wollen. Im Sinne einer Zusammenarbeit, die auf die Politikfähigkeit der einen und die Action der anderen baut. Nun ist der 30-Jährige gewiss ein politisches Talent, den Menschen zugewandt und mit Feuereifer dabei. Aber einen Matthias von Herrmann einfangen, einen Gerhard Pfeiferist vom BUND zum Durchsetzer machen? Das ist schon seinem Lehrherrn Stocker nicht gelungen.

Rockenbauch will es mit einem breiteren Ansatz versuchen. Über den Bahnhof hinaus, hin zur Stadt, zur Zukunft des Gemeinwesens und zum Recht des Bürgers auf eine lebenswerte Welt. Darüber könnte ein Konsens mit den Parkschützern erzielt werden, hofft er, und sagt dann noch einen Satz, der für sein Alter ziemlich weise ist und für alle Beteiligten gilt: „Du sendest immer und empfängst nichts mehr.“ Der Satz könnte der Schlüssel für den Erfolg einer unglaublichen Geschichte werden. Wenn alle zuhören.