Werben für Rom mit den alten Rezepten

Beim ersten Besuch in Brasilien will der Papst den Abwanderungstendenzen im größten katholischen Land der Welt begegnen. Doch Lateinamerikas Befreiungstheologen sehen hinter dem neuen Benedikt XVI. vor allem den alten Joseph Ratzinger

AUS PORTO ALEGRE GERHARD DILGER

Der Papst kommt. Als Ziel seiner ersten Interkontinentalreise hat sich Benedikt XVI. „das „größte katholische Land der Welt“ ausgesucht: Brasilien. Heute landet er in São Paulo, Freitag wird er Franziskanermönch Frei Galvão heiligsprechen. Mit einer Missionsoffensive will der Oberhirte aus Rom zwei ungleiche Gegner in die Schranken weisen: die fundamentalistischen Pfingstkirchen, deren Vormarsch in Lateinamerika weitergeht – und die immer wieder totgesagte Befreiungstheologie.

Bereits als rechte Hand und Chefideologe seines Vorgängers Johannes Paul II. hatte Joseph Ratzinger jahrzehntelang die fortschrittlichen Strömungen in der katholischen Kirche zurückgedrängt. In São Paulo ersetzte er den linken Paulo Evaristo Arns durch den „moderaten“ Claudio Hummes, der jetzt die Kleruskongregation in Rom leitet. Dessen Nachfolger in São Paulo, Erzbischof Odilo Scherer, verkündete jetzt klar: „Die Zeit der Befreiungstheologie ist vorbei.“

„So einfach ist das nicht“, gibt der Befreiungstheologe Paulo Suess zurück. „Sicher, in den Pfarreien geht es jetzt autoritärer zu. Die jungen Theologen in den Seminaren reißen sich nicht mehr darum, an die Peripherie zu gehen. Doch die Befreiungstheologie ist fest verankert, es gibt viele sehr engagierte Pfarrer und Laien, die sich für die Indianer, Gefangene, Arbeiter einsetzen.“ Der 68-Jährige, der vor 40 Jahren vom Bistum Augsburg an den Amazonas geschickt wurde, hat seither mit seiner lateinamerikanischen Variante der „Inkulturationstheologie“ die passende Theorie für die modernen Missionare entwickelt. Die wollen die Indígenas nicht mehr bekehren, sondern in ihrer eigenen Religiosität ernst nehmen. Ganz anders der Papst, der am Sonntag im Marienwallfahrtsort Aparecida mit einer programmatischen Rede die erste lateinamerikanische Bischofskonferenz seit 15 Jahren eröffnet. „Ratzinger geht von einem eurozentrischen Missionsbegriff aus“, so Suess zur taz, „sein Rationalitätsbegriff ist ein Irrweg. Für ihn sind die Indianer nur Folklore, wir hingegen sagen, das Evangelium identifiziert sich mit keiner Kultur.“ Im Jahr 1968 riefen die lateinamerikanischen Bischöfe im kolumbianischen Medellín die „Option für die Armen“ aus – der Papst wolle dahinter zurückfallen, meint Suess. „Allerdings steht er unter einem Legitimationszwang, er redet von Hilfe für die Armen. Wir hingegen wollen keine Höflichkeitsfloskeln, sondern weiterdenken. Wir brauchen eine Option mit den Armen, also ein Mitspracherecht bei der Auswahl der Prioritäten.“ Auch Leonardo Boff, den Joseph Ratzinger 1985 mit einem Schweigegebot abgestraft hatte, sieht den Papstbesuch mit gemischten Gefühlen. Erst im März hatte der Vatikan dem Jesuiten Jon Sobrino aus El Salvador eine Rüge erteilt. „Sie schlagen Sobrino und meinen die lateinamerikanische Kirche“, sagt Boff. Nach der Papstwahl habe er auf einen Kurswechsel gehofft, „aber er ist der Gleiche geblieben: ein doktrinärer Papst, der noch glaubt, dass das Christentum der einzige Weg zum Seelenheil ist“. Benedikt XVI. sei der Hauptverantwortliche dafür, dass die katholische Kirche allein in Brasilien jedes Jahr ein Prozent ihrer Gläubigen verliert.

Die „Rückeroberungsstrategie“ des Papstes werde kaum gelingen, meint Paulo Suess. Gerade in den Armenvierteln Lateinamerikas sind die Pfingstkirchen auf dem Vormarsch, „bei denen können die Menschen ihren Alltag vergessen. Die Sekten profitieren von der Landflucht und der Wurzellosigkeit der Leute. Während wir oft gar nicht präsent sind, bilden die ihre Prediger in einem halben Jahr aus.“ Die charismatische Bewegung bei den Katholiken, bei der das Feiern im Vordergrund steht, sei ein Versuch, mit ähnlichen Methoden um Gläubige zu werben.

Eine neue Erhebung des Umfrageinstituts Datafolha belegt den Wandel: Nur noch 64 Prozent aller BrasilianerInnen über 16 Jahren bezeichnen sich als Katholiken, 1996 waren es noch 74 Prozent. Im gleichen Zeitraum stieg der Anteil der Pfingstkirchler von 11 auf 17 Prozent. Geringere Zuwächse verzeichnen die protestantischen Kirchen, afrobrasilianischen Religionen sowie Spiritisten und Religionslose. Nach wie vor glauben 97 Prozent der BrasilianerInnen an Gott, und 94 Prozent geben an, regelmäßig zu beten.