Editorial
: Im Dschungel lesen lernen

An Christi Himmelfahrt wünscht das Personal im Hotelfoyer allen Besuchern des Kirchentages einen schönen Tag, besonders den Männern aber einen gelungenen Männertag. Wer es bislang verdrängt hatte, erkennt jetzt unweigerlich, dass wir uns im Osten der Republik befindet: Was in der alten Bundesrepublik der Tag der Väter inklusive männerbündlerischen Besäufnisses war, wird im Einflussgebiet des einstigen Sozialismus als Tag der Männer apostrophiert.

Trotzdem und vor allem ist Kirchentag in Dresden. Er überwölbt das, was M1ännertag genannt wird. Die an diesem gesetzlichen Feiertag normalerweise leere Stadt ist jetzt bei strahlendem Sonnenschein und eher kühler Temperatur voller Schwärmer christlicher Provenienz. Sie tragen grüne Halstücher, denn Grün ist – neben einem etwas schmutzig wirkenden Pink – die Farbe dieses 33. Evangelischen Kirchentages. Das soll natürlich nicht als politisches Programm genommen werden. Man könnte es aber: Ein Kirchentag wirkt wie ein aus der räumlichen Spur geratener grüner Parteitag, was nicht allein daran liegt, dass die Grünenpolitikerin Katrin Göring-Eckardt eine präsidiale Rolle spielt, die der Kirchentagspräsidentin nämlich.

Aber was schert einen Kirchentagsbesucher schon die Atmosphäre allfälliger Gutherzigkeit – er oder sie ist ja selbst ein Stimmungszuträger. Man könnte auch sagen: Kirchentag ist, wenn sonst langweilende Städte schon am Vormittag durch Menschen bevölkert werden, die sich die Straßen und Plätze erst erobern. Und weil der Kirchentag nicht auf einem einzigen Gelände angesiedelt ist, gern auf einem Messeareal, sondern in der ganzen Stadt, hat dieses Laientreffen den Charakter einer einzigen menschlichen Suchbewegung. In der Straßenbahn hört man Sätze wie: „Jetzt haben wir uns wieder verfahren – ist das nicht cool?“

Orientierungshilfen gibt es viele, doch die Kunst scheint zu sein, sie nicht allzu verspannt zu nehmen. Wirkt es hier nicht sehr gemütlich? Dresden ist ein Dschungel, in dem 100.000 Menschen sich erst zurechtfinden müssen. Der Vatertag beginnt also mit Leseübungen: Wo ist Margot Käßmann? Wo spricht sie? Wo wird sie sein? Heute kurz vor Mitternacht wird sie zum Altmarkt kommen. Wir warten weiter auf den einzigen Popstar, den die Kirche aktuell hat.

JAN FEDDERSEN