Eine für alle

Soziale Gerechtigkeit lässt sich nur auf europäischer Ebene erhalten. Die EU muss endlich eine gemeinsame Sozialpolitik entwickeln – oder die Standards sinken in allen Staaten

Nicole Messmer ist während der deutschen Ratspräsidentschaft EU-Korrespondentin der taz in Berlin. Als überzeugte Europäerin interessiert sie vor allem die Frage, wie die EU nichtsdestotrotz besser gestaltet werden könnte.

Mit der Begründung, die Europäische Verfassung sei zu wenig sozial, haben die Franzosen sie vor knapp zwei Jahren in einem Volksentscheid abgelehnt. Jetzt haben sie wieder die Wahl: zwischen Ségolène Royal, die eine Sozialcharta als Zusatz zur Europäischen Verfassung fordert, und Nikolas Sarkozy, der einen Mini-Vertrag vorziehen würde, der nur die Institutionen neu regelt.

Mit ihrem Wunsch nach einem sozial gerechten Europa stehen die Franzosen nicht allein da. Um dies zu erreichen, braucht die EU eine gemeinsame Sozialpolitik. Rund 17 Millionen EU-Bürger sind arbeitslos, und immer mehr Beschäftigte leben in kurzfristigen oder prekären Arbeitsverhältnissen. Immerhin etwa ein Fünftel der EU-Bevölkerung gilt als arm, davon betroffen sind vor allem Ältere, Alleinerziehende sowie Kinder und Jugendliche. Gerne führt Brüssel gerade die soziale Dimension als besondere Tugend an – vor allem, wenn es um einen Vergleich mit den USA geht. Tatsache jedoch ist, dass die Mitgliedstaaten der EU höchst unterschiedliche Sozialmodelle haben und auch wirtschaftlich unterschiedlich stark sind.

Vor allem viele deutsche Politiker lassen Sympathie für Royals Vorschlag einer Sozialcharta durchblicken. Weniger begeistert allerdings sind die Regierungen Großbritanniens, Tschechiens oder Polens. Es besteht daher die Gefahr, dass der Minimalkompromiss ein Zusatzprotokoll sein könnte, das nicht von allen Mitgliedstaaten ratifiziert werden müsste. Doch Sozialpolitik in Europa kann künftig nur noch funktionieren, wenn sie gemeinsam gestaltet wird.

Von einer solchen gemeinsamen Sozialpolitik kann derzeit aber keine Rede sein. Zwar haben die europäischen Staats- und Regierungschefs im Rahmen der Lissabon-Strategie im Jahr 2000 auch „einen größeren sozialen Zusammenhalt“ auf die Prioritätenliste gesetzt. Mittel dazu ist jedoch lediglich die „Methode der offenen Koordinierung“: Die Staaten legen gemeinsam Leitlinien und Zielsetzungen fest, die in den einzelnen Staaten umgesetzt werden sollen. Einen Sanktionsmechanismus gibt es aber nicht. In Brüssel und Straßburg ist man derzeit sowieso noch uneins darüber, wie eine gemeinsame Sozialpolitik überhaupt auszusehen hätte: Sollen die sozialpolitischen Instrumente harmonisiert oder soziale Mindeststandards eingeführt werden?

Die Sozialpolitik funktioniert in den einzelnen Ländern nach gänzlich unterschiedlichen Prinzipien: Während in Deutschland das Sozialsystem über zusätzliche Beiträge von Arbeitnehmern und Arbeitgebern finanziert wird, werden die Systeme vor allem in den skandinavischen Staaten über Steuern finanziert. Das liberale Wirtschaftsmodell folgt der Devise: so wenig Staat wie nötig, hieß es vor allem lange Zeit in Großbritannien und Irland. Doch hat sich dort mittlerweile eine Mischform herausgebildet. Immer noch basiert das Sozialsystem auf der Flexibilität des Arbeitsmarktes. Zusätzlich ist in Großbritannien jedoch mittlerweile etwa ein Mindestlohn eingeführt worden – mit Erfolg. Länder wie etwa Lettland könnten künftig die liberale Nachfolge Großbritanniens antreten.

Ein Sozialprotokoll, das an die EU-Verfassung angehängt werden könnte, reicht nicht

Es spräche einiges dafür, künftig in ganz Europa die Steuerfinanzierung einzuführen, wie sie in Skandinavien üblich ist. So argumentieren Kritiker der Beitragsfinanzierung immer wieder, dass Sozialbeiträge den Faktor Arbeit erheblich verteuern und Nachteile gegenüber anderen Regionen der Welt schaffen, in denen billiger produziert werden kann. Dennoch ist dies wenig wahrscheinlich: Eine Angleichung der Systeme würde zumindest einem Teil der Mitgliedstaaten gewaltige Umstrukturierungsmaßnahmen abverlangen.

Das neue Zauberwort auf EU-Ebene heißt daher „Flexicurity“, eine Mischung aus Flexibilität in den Arbeitsbeziehungen und sozialer Sicherheit. Es basiert auf dem dänischen Modell, nach dem Unternehmen ihre Angestellten nach Herzenslust entlassen können. Zugleich pumpt der Staat jedoch 30 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts in die sozialen Sicherungssysteme, um Arbeitslose sozial abzusichern und durch flexible und individuelle Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen wieder schnell in Arbeit zu bringen. Um soziale Sicherheit zu gewährleisten, müssten alle Staaten einen ähnlich hohen Anteil in die sozialen Sicherungssysteme und die Bildung investieren, wie Dänemark dies tut. Und das käme am Ende einer kompletten Umstrukturierung gleich.

Diese Harmonisierung der Sozialpolitik wäre zwar wünschenswert, ist aber momentan nicht durchsetzbar. Die EU braucht daher wenigstens Mindeststandards, um einen Negativwettbewerb zwischen den einzelnen Staaten zu verhindern. Zum Beispiel bei den Löhnen. Europäer in vielen Ländern fürchten sich vor einer Lohnspirale nach unten, wenn immer mehr Arbeitskräfte einwandern, die bereit sind, für weniger Geld zu arbeiten. Zwar hat sich zumindest in Deutschland gezeigt, dass die Zahl der Arbeitskräfte aus den neuen EU-Mitgliedstaaten wegen der eingeschränkten Arbeitnehmerfreizügigkeit nicht allzu hoch ist. Dennoch: Viele Arbeitnehmer können von ihrem verdienten Geld alleine nicht mehr leben.

Mit ihrem Wunsch nach einem sozialen Europa stehen die Franzosen nicht allein da

Sinnvoll ist daher der Vorschlag einer Gruppe von europäischen Wissenschaftlern, 50 bis 60 Prozent des nationalen Durchschnittseinkommens als Mindeststandard festzusetzen. Dass es auf einen Versuch ankäme, zeigt das Beispiel Großbritannien. Dort hat die Einführung eines Mindestlohns nicht zu Arbeitsplatzverlusten geführt, sondern sogar zu einer Beschäftigungszunahme und vor allem zu mehr Qualität der Arbeit. Gemeinsame Mindeststandards bringen den Vorteil mit sich, dass sich die Staaten nicht mehr im gegenseitigen Wettbewerb unterbieten müssen: um die billigsten Arbeitskräfte oder um die billigsten Unternehmensstandorte. Dass sie dadurch lediglich an Handlungsfähigkeit verlieren, zeigt auch das Beispiel der Unternehmensteuern: Da kein Land die massenhafte Abwanderung von Unternehmen verantworten möchte, unterbieten sich die Regierungen in ständig neuen Regelungen für niedrigere Unternehmensteuern – und vergeben damit wichtige Einnahmen.

Vieles spricht für ein gemeinsames europäisches Sozialmodell. Ein Sozialprotokoll, das an die EU-Verfassung angehängt werden könnte, wird jedenfalls nicht reichen. Im Gegenteil ist dieses Verfahren eher dazu angetan, eine gemeinsame Sozialpolitik geradezu unmöglich zu machen, da der Charme gerade dieser Protokolle ist, dass nicht alle mitmachen müssen. Viel versprechender wäre es daher, sich nach der institutionellen Neuregelung einer umfassenden Reform der einzelnen Politikbereiche zu widmen – inklusive der Sozialpolitik. Davon hätten am Ende alles etwas: die EU, die Mitgliedstaaten und die Bürger. Die EU könnte Zustimmung zurückgewinnen, die Mitgliedstaaten bekämen ihre Handlungsfähigkeit zurück und die Bürger hätten Sicherheit. Dass ein Umbau sich lohnt, zeigen die skandinavischen Länder. NICOLE MESSMER