„Ostdeutschland holt auf“

Die Klagen über die Misere im Osten übersehen, dass die Wirtschaft dort mittlerweile stärker wächst als im Westen. Und dass die oft kritisierte Vereinigung für den Osten vor allem eine Rettung war, so der Theologe Richard Schröder

taz: Herr Schröder, ist die deutsche Vereinigung eine Erfolgsgeschichte?

Richard Schröder: Für den Osten auf jeden Fall. Denn 1989 war die DDR in einer völlig desolaten Lage. Wer allerdings immer nur fragt, ob es dem Osten denn jetzt endlich genauso gut geht wie dem Westen, sieht natürlich nur Defizite.

Aber die Ökonomien in Ost und West haben sich in den letzten Jahren auseinanderentwickelt. Der Westen ist stärker als der Osten gewachsen. Da muss doch was schiefgelaufen sein.

Nein. Ein Rekonvaleszent kann halt nicht so schnell laufen wie ein Gesunder.

Das kann aber auch an der falschen Therapie liegen.

Ja, aber hier lag es an der Heftigkeit der Krankheit. Die DDR-Wirtschaft war 1989 völlig am Ende. Die deutsche Einigung kam also zu einem ökonomisch ungünstigen Zeitpunkt – aber so war es eben. Revolutionäre pflegen ja selten Ökonomen vorher zu fragen, ob denn der Zeitpunkt gerade passt. Der Westen war produktiv und konkurrenzfähig, der Osten nicht. Die Ökonomie im Osten musste im Grunde völlig neu aufgebaut werden. Das war alternativlos.

Wirklich? War die Treuhand, die schnelle Währungsunion, die die Zerstörung des gesamten DDR-Außenhandels nach sich zog, alternativlos – also quasi naturnotwendig?

Nein, das war kein Naturgesetz. Aber bitte, was war denn 1990 die Alternative? Kohl wollte doch mit dem Zehn-Punkte-Plan eine langsame Vereinigung – und wurde vom DDR-Volk zur Eile gezwungen. Denn es strömten 1990 doch Massen aus dem Osten in den Westen.

Diese Abstimmung mit den Füßen gibt es aber 17 Jahre danach noch immer. Die demografische Entwicklung ist auf dem Land im Osten dramatisch. Wer aufstiegsorientiert ist, geht. Zurück bleiben die sozial Immobilen, meist Männer. Ist das kein Folgeschaden der Vereinigung?

Nein. Die Hälfte des Bevölkerungsrückgangs im Osten liegt an dem Geburtenknick in den 90ern, als die Leute wenig Vertrauen in die Zukunft hatten – nicht an der Abwanderung. Auf dem Land arbeiteten in den LPGs 1990 zehnmal so viele, wie man heute dort braucht. In Schleswig-Holstein gab es diese Rationalisierung der Landwirtschaft und die Abwanderung aus den Dörfern auch – aber eben viel langsamer. Im Osten verstärkt das Tempo der Angleichungen den Effekt.

Also ist die Abwanderung nicht so dramatisch, sondern sieht nur so aus?

Für vier, die aus dem Westen nach Osten kommen, gehen fünf von Ost nach West. Es gibt also nicht nur Abwanderung, sondern vor allem Austausch. Dass so viele in den Osten, natürlich meist in die Städte, ziehen, zeigt, dass es so ganz schlimm dort nicht sein kann.

Das hilft den verödenden Landstrichen in Nordbrandenburg und Sachsen-Anhalt, in denen Jobs, Schulen und Geschäfte verschwinden, auch nicht. Also bleibt nur ratloses Achselzucken?

Nein, da braucht man Strukturen, die für dünn besiedelte Gebiete passen. Mecklenburg-Vorpommern und Ostbrandenburg nähern sich der Besiedlungsdichte von 1944 an, also bevor die Flüchtlinge aus dem Osten kamen. Aber wir sollten vielleicht weniger pauschal von West und Ost reden, sondern besser von Nord und Süd. Der Süden war auch zu DDR-Zeiten dichter besiedelt. Es gibt also Gegenden, die immer am Tropf hängen werden – und andere im Süden, die wachsen. Es gibt den „Osten“ als einheitliches Gebilde immer weniger.

Trotzdem: Gerade in den verödenden Gegenden fasst die NPD und der Rechtsextremismus Fuß. Ist das nicht doch eine Folge der Vereinigung?

Ja, insofern es das so nicht gäbe, wenn die DDR existieren würde. Allerdings gab es auch in der DDR schon rund tausend gewalttätige, rechte Skinheads. Ich verwahre mich aber gegen das Bild, dass „der Osten“ rechtsextrem ist. In Ost wie West können sich etwa 10 Prozent vorstellen, eine rechtsextreme Partei zu wählen. Damit soll nicht beschönigt werden, dass es im Osten Gegenden gibt, in denen rechte Schläger ihr Unwesen treiben. Und in denen die Zivilgesellschaft versagt, weil sie es der NPD überlässt, das Dorffest zu organisieren.

Gibt es denn 17 Jahre nach der Vereinigung eine starke, stabile Zivilgesellschaft im Osten?

Nein, das Bürgertum – damit meine ich all jene, die sich eigenständig um das Gemeinwohl in ihrem Ort kümmern – ist von der SED systematisch zerstört worden. Vier Millionen haben die DDR verlassen – das waren vor allem Aktive, die sich eingesperrt fühlten. Dieses bürgerliche Engagement wächst langsam nach. Es ist noch zu wenig, aber die Richtung stimmt.

Es gibt also einen kontinuierlichen Prozess zu einer stärkeren Zivilgesellschaft?

In den Städten ja – auf dem Land kaum. Dort herrscht noch viel die Haltung: Wir warten lieber auf den Staat.

Wie sieht denn die ökonomische Zukunft des Ostens aus? Bis 2003 schien der Abstand ja noch zuungunsten des Ostens zu wachsen. Und heute?

Die jüngsten Wirtschaftsprognosen sagen, dass der Osten mehr wachsen wird als der Westen. Es wird bei dem allgemeinen Klagen über die Misere im Osten auch manches übersehen. Zum Beispiel, dass die Beschäftigungsquote in Thüringen höher ist als in Nordrhein-Westfalen – also der Anteil jener, die arbeiten, gemessen an allen, die arbeiten können. Zum Teil ist die Arbeitslosigkeit im Osten so hoch, weil die Frauen, anders als im Westen, arbeiten wollen. Anders gesagt: Im Osten braucht man mehr Arbeitsplätze als im Westen.

Trotzdem ist die industrielle Basis im Osten noch immer schmaler als im Westen.

Das stimmt, im Osten macht das produzierende Gewerbe – also die Industrie – nur 16 Prozent, im Westen aber 22 aus. Aber auf den zweiten Blick erkennt man: Die Industrie im Osten wächst schneller, weil ihre Maschinen viel moderner sind.

Sie glauben also, dass die Prophezeiung, dass der Osten der deutsche Mezzogiorno wird, also ein dauerhaft unterentwickeltes Gebiet, falsch ist?

Ja, so pauschal bestimmt. Thüringen und Sachsen sind Ursprungsländer der Industrialisierung, genauso wie das Ruhrgebiet. Und der Norden war schon immer agrarisch geprägt. Wie gesagt – die Nord-Süd-Unterschiede werden den Ost-West-Gegensatz immer mehr überlagern.

Wenn Ihre Analyse stimmt, dass die Widersprüche der Vereinigung langsam verschwinden, dann bleibt allerdings eine Frage: Warum existiert die Linkspartei/PDS noch, die ja noch immer stark von den Ost-West-Widersprüchen lebt? Und warum hat sie auch noch Erfolg?

1990 hatte ja keine Partei außer der PDS ein traditionelles Milieu. Das ist im Osten bis heute so. Weder CDU noch SPD sind im Osten Milieuparteien, die eine Klientel fest an sich gebunden haben. Das ist kein Wunder, weil diese kirchlichen oder gewerkschaftlichen Milieus ja auch im Westen ausbleichen.

Das erklärt nicht den fortwährenden Erfolg der PDS.

Nein, aber wenn man sich die Überalterung der Parteimitglieder vor Augen führt und dass es der PDS nicht gelungen ist, jüngere Wähler enger an die Partei zu binden, fragt sich, ob die PDS im Osten erfolgreich bleibt. Ich glaube das nicht.

INTERVIEW: STEFAN REINECKE