Menschenwürdiges Sterben

Das Sozialamt Dithmarschen zwingt einen todkranken Patienten, aus Kostengründen in einem Heim zu leben. Er kämpft darum, in eine eigene Wohnung ziehen zu dürfen. Sein Anwalt findet: Die Debatte um Patientenverfügungen greift zu kurz

Nachdem das Sozialgericht es abgelehnt hat, einen Gutachter zu beauftragen, will der Rechtsanwalt von Hans-Jürgen Leonhard die Untersuchung nun selbst bei einem Sachverständigen in Auftrag geben. Denn die Situation im Heim belaste Leonhard psychisch und physisch so stark, dass er dort sicher früher sterben werde als zuhause. Da Leonhard als Sozialhilfeempfänger den Gutachter nicht selbst finanzieren kann, versucht sein Rechtsanwalt nun, Spenden dafür zu sammeln. Die Deutsche Hospizstiftung und zahlreiche Privatspender haben bereits ihre Unterstützung zugesagt.

Weitere Informationen und Kontakt: www.lebenswille.info

VON ELKE SPANNER

Selbstbestimmung ist ein Wort, das die Debatte um Patientenverfügungen und Sterbehilfe maßgeblich bestimmt. Gemeint ist damit das Recht eines todkranken Menschen, selbst zu entscheiden, ob er seinem Leben ein Ende setzen will, wenn es ihm nicht mehr lebenswert erscheint. Das Hamburger Sozialgericht beschäftigt zurzeit ein Fall, in dem es auch um ein selbstbestimmtes Leben und Sterben geht – aber unter anderen Vorzeichen. Der schwerkranke Hans-Jürgen Leonhard, der rund um die Uhr maschinell beatmet werden muss, will leben – und kämpft darum, seine letzten Monate zuhause in einer eigenen Wohnung verbringen zu dürfen. Das Sozialamt Dithmarschen aber verweigert ihm das. Es besteht aus Kostengründen darauf, dass Leonhard im Heim lebt.

Der 67-Jährige ist an Amyotropher Lateralsklerose (ALS) erkrankt. Das ist eine Nervenkrankheit, die schleichend voranschreitet und schließlich das gesamte Nervensystem lähmt. Bei Leonhard ist die Krankheit so weit ausgeprägt, dass er sich nicht mehr bewegen kann. Er liegt im Bett, wo er maschinell beatmet werden muss. Auch sprechen kann er nicht mehr. Kommunizieren kann er nurmehr über die Augen, mit denen er noch Zeichen geben kann.

Als er die Diagnose ALS vor rund vier Jahren bekam, empfahl ihm seine Krankenkasse, in ein Pflegeheim zu ziehen. Zuhause sei es auf Dauer nicht möglich, ihn angemessen zu betreuen. Leonhard hat sich einen Heimplatz gesucht, worüber er jetzt nach Bekunden seines Rechtsanwaltes Oliver Tolmein sehr unglücklich ist. Denn in dem kleinen zwölf Quadratmeterraum, der sein neues Zuhause ist, liegt er fast den ganzen Tag alleine rum. Die Pflegekräfte kommen nur vorbei, um die notwendige Grundversorgung zu erbringen. Schon dazu, ihm einmal die Zeitung vorzulesen, reicht die Zeit nicht aus. Wirkliche Zuwendung erfährt Leonhard nur drei mal die Woche für 30 Minuten – da bekommt er Ergotherapie. Die übrige Zeit ist er darauf angewiesen, dass seine Kinder Zeit finden, ihrem kranken Vater Gesellschaft zu leisten.

Leonhard will deshalb aus dem Heim wieder raus. Er möchte seine letzten Monate in einer eigenen Wohnung verbringen, mit einer Pflegekraft, die auf seine Bedürfnisse eingehen kann und nicht an den Dienstplan eines Heimes gebunden ist. Eine ambulante Rund-um-die-Uhr-Pflege aber kostet Geld, und das will das Sozialamt Dithmarschen nicht aufbringen. Denn es gilt im Sozialhilferecht zwar der Grundsatz, dass ambulante Leistungen vor stationären Vorrang haben. Das gilt aber nicht, wenn die stationäre Behandlung „zumutbar“ und die ambulante mit „unverhältnismäßigen Mehrkosten“ verbunden ist. Das Sozialamt findet, das Leben im Heim sei für Leonhard zumutbar. Und wären die Mehrkosten zuhause unverhältnismäßig? „Es geht um die Frage der Menschenwürde“, sagt Rechtsanwalt Tolmein dazu.

Dieser Fall zeigt, dass in der Debatte um Patientenverfügungen noch weitere Konstellationen berücksichtigt werden müssen als nur die, dass manche Schwerkranke nicht an lebenserhaltenden Maschinen weiterleben wollen. Wie bei der klassischen Patientenverfügung hat auch Leonhard seinen letzten Wunsch geäußert – und der lautet eben nicht, die lebenserhaltenden Maßnahmen einzustellen, sondern mit diesen Maßnahmen in den eigenen vier Wänden weiterleben zu dürfen.

„Die Debatte um Patientenverfügungen geht davon aus, dass es eine medizinische Überversorgung geben kann und ein Mensch das Recht haben muss, sich weniger versorgen zu lassen“, erklärt Tolmein. „Es muss aber auch umgekehrt möglich sein: Ein Patient muss das Recht auf die optimale Versorgung haben – auch, wenn diese teuer ist.“ Bei diesem Problem aber trifft der Anwalt nicht ohne Weiteres auf Verständnis. Denn viele Menschen könnten sich nicht in einen Patienten reinversetzen, der auch an medizinischen Geräten dauerhaft weiterleben will.

Tolmein will einen Gutachter beauftragen zu untersuchen, ob für Leonhard der Aufenthalt im Heim zumutbar ist oder nicht sogar sein Leben verkürzen wird. Leonhards Familie sieht in einem solchen Gutachten die letzte Chance, das Verfahren vor dem Sozialgericht zu gewinnen und den 67-Jährigen aus dem Heim rauszubekommen. Den entsprechenden Antrag auf Begutachtung aber hat das Sozialgericht abgelehnt.