Darf man Kinder an der Leine führen?
JA

Kontrolle Es gibt Eltern, die können nicht loslassen – aus Angst hängen sie ihren Kindern Laufgeschirre um

Thomas Lindemann, 41, Koautor der Bücher „Kinderkacke“ und „Quengelzone“

Ich bin zurzeit temporär alleinerziehend. Hoffentlich kommt die Frau bald von ihren Reisen heim, denn die Betreuung dreier Kinder ist der anstrengendste Job der Welt. Und ich hab beim Film mal große Leuchten geschleppt und bin im Schwarzwald verkatert einen Tausender hochgestiegen. Alles ein Witz dagegen. Die herrlichen Eigenschaften von Kindern – ihre grenzenlose Energie und der Elan, zu jedem interessanten Ding sofort hinzulaufen – sind zugleich ihre schrecklichen. Für den, der sie betreut. Da ist die Leine eine tolle Sache. Jeder, der Kinder hat, wollte insgeheim schon mal so eine Leine. Die geben das nur nicht zu. Wenn das Tabu nun fällt, ist das zwar barbarisch. Als Signal im öffentlichen Raum aber wunderbar und dringend nötig. Mitten in Berlin habe ich gerade ein neues „Spielen verboten“-Schild gesehen. Die 50er sind zurück, und nicht cool wie in „Mad Men“, sondern hässlich. Der Anblick der Leine wird die latent kinderfeindlichen Normalos ins Grübeln bringen. Also benutzen wir sie!

Ann-Dorothee Schlüter, 41, ist Kostümhistorikerin mit Schwerpunkt Kinderkleidung

Im 17. und 18. Jahrhundert fanden sich an Kleinkinderkleidern sogenannte Gängelbänder. Das waren stabile Stoffstreifen, die an der Schulterpartie der Kleidchen befestigt waren. Sie dienten dazu, das Kind aufzufangen, wenn es stürzte, was beim Laufen lernen ja häufig vorkommt. Gängelbänder waren nichts anderes als ein verlängerter Arm für die damaligen Mütter und Kinderfrauen, die sich zeitgemäß korsettiert nicht so leicht bücken konnten, um dem Kind aufzuhelfen. Sie unterstützten also einen Lernprozess, der in die Selbstständigkeit führte, und sollten die Kinder vor Schaden bewahren – wirklich lenken konnte man ein Kind damit aber nicht. Das machen Eltern heute auch, wenn sie ihr Kind an die Hand nehmen, und ich finde daran nichts verwerflich. Die „modernen“ Kindergeschirre sehe ich in dieser Tradition, sie helfen Müttern und Vätern, ihr Kleinkind in dichtem Gedränge nicht zu verlieren. Man kann das Kind damit auffangen, wenn es stolpert. Viel problematischer empfinde ich, dass Eltern ihre Kinder heute oft an unsichtbare Leinen nehmen. Man stattet Kinder mit Handys aus, damit man sie jederzeit anrufen kann, oder lässt sie nicht mehr alleine auf den Spielplatz gehen, kurzum, das Kind wird rund um die Uhr überwacht.

Katja Hoppe, 26, ist taz-Leserin und hat die Streitfrage per E-Mail kommentiert

Ausgelöst durch eine Reportage über die Metropolen Südamerikas, in denen das Anleinen von Kindern aus Sicherheitsgründen gang und gäbe ist, postete ein „Facebook-Freund“ vor kurzem, dass er darüber nachdachte, seinen Sohn bei Ausflügen ebenfalls mit einem Geschirr auszustatten. Sofort entbrannte eine Diskussion, in der die üblichen Buzz-Words wie „traumatisierend“, „entwicklungshemmend“ und „erniedrigend“ fielen. Entschuldigung? Ein Kind wird erniedrigt und gehemmt, wenn es keine Wertschätzung und Zuwendung erfährt, wird traumatisiert, wenn es körperlich und seelisch vernachlässigt wird. In diesem Fall wird die psychische Wirkung eines physischen Bindegliedes zwischen Eltern und Kind überschätzt und ihm eine Symbolik zugeschrieben, die für Kinder nicht wahrnehmbar ist. Ehrlich: Es handelt sich ja nicht um eine an einem Pflock befestigte Metallkette mit Stachelhalsband. Tausendmal schlimmer, als ein Kind zu sehen, das an einer Leine läuft, ist es, auf Großveranstaltungen zu erleben, wie verzweifelte, tief erschütterte Eltern durch die Menge drängen, den Namen ihres Kindes brüllend – und an einer anderen Ecke einen kleinen Stöpsel zu entdecken, orientierungslos und gefühlt allein auf der Welt. Das traumatisiert Kinder.

NEIN

Katharina Saalfrank, 42, ist Diplompädagogin und bekannt aus „Die Super Nanny“

Jeder, der ernsthaft in Erwägung zieht, Kinder an die Leine zu nehmen, sollte zunächst den Selbstversuch starten. Lassen Sie sich einige Stunden konsequent in der Stadt an der Leine halten. Nicht vergleichbar? Auch Kinder haben schon sehr früh eine genaue Empfindung für Würde – man erinnere sich nur daran, wie einem die Tante öffentlich mit einem feuchten Taschentuch die Backe säuberte: das war nicht nur eklig, sondern auch entwürdigend! Erwachsene haben die Verantwortung, wertschätzend mit Kindern umzugehen und sie liebevoll zu begleiten. Ist das „An-der-Leine-Führen“ nicht eine Art der Bequemlichkeit oder nur Ausdruck von Angst, der sich in einen Kontrollwahn steigert? Kinder kommen offen und neugierig auf die Welt. Sie wollen die Welt erkunden, und das ist auch mal anstrengend für die Eltern, ja! Aber Kinder brauchen den direkten Kontakt zu uns. Bei Gefahr kann man sie auch einfach „an die Hand nehmen“! Das kann eine Leine nicht ersetzen.

Rainer Wendt, 57, ist Bundesvorsitzender der Deutschen Polizeigewerkschaft

Mit Kindern durch die Stadt zu gehen bedeutet oft „Sprungbereitschaft“ in jeder Sekunde. Dürfen wir sie deshalb wie Haustiere an die Leine nehmen? Nein! Nichts anderes als verschönerte Hundeleinen sind in Wahrheit die Geschirre, die der Vereinfachung unserer Aufsicht dienen sollen. Wichtig ist, Kinder zu beschützen und sie anzuleiten, statt ihren unvorhersehbaren Bewegungsdrang zu steuern und sie ohne jeglichen Lerneffekt zu Marionetten zu degradieren. Auch Ältere und Behinderte sind häufig verkehrsschwach. Niemand würde sie deshalb anleinen, ein klarer Verstoß gegen die Menschenwürde – und die hat kein Mindestalter! Verantwortung ist manchmal anstrengend und nervig. Für das Wertvollste, das unsere Gesellschaft besitzt, darf das auch so sein.

Ute Glaser, 56, ist Autorin des Erziehungsratgebers „Die Eltern-Trickkiste“

Jedes Kind sollte ein selbstständiger und verantwortungsvoller Mensch werden, der sich in der Gesellschaft zurechtfindet. Dafür sollten Kinder von klein auf lernen, Risiken und Gefahren auszuloten und die eigenen Grenzen zu spüren – dazu gehört auch das Auf-die-Nase-Fallen. Geht ein Kind an der Leine, da seine Eltern bequem oder überbehütend sind, kann es Eigenverantwortung und Handlungseffekte kaum üben. Lernen geschieht durch Erfahrungen und Fehler. Besser dem Kind seinen Bewegungsraum konsequent vorschreiben oder es an die Hand nehmen. Zumal fürs Leinen-Kind die Welt hinterm Leinenende sogar besonders interessant werden könnte und so womöglich eine echte Gefahr entsteht, sobald das Kind dieselbe Situation ohne Leine erlebt. Einzig im Gebirge und auf Booten kann anleinen Sinn machen.

Manuel Beligni, 24, ist taz-Leser und hat die Frage per Email kommentiert

Als angehender Kindheitspädagoge sind mir schon viele schwer kontrollierbare Kinder begegnet. Aber ich habe nie daran gedacht, eine dieser Hundehalskrausen im Kindergarten einzuführen. Ich könnte mir kaum etwas erniedrigenderes vorstellen, als meiner Freundin Kindheitsfotos von mir zu zeigen, auf denen ich mit Hundeaccessoires geschmückt bin. Die Zahl der sogenannten schwer erziehbaren Kinder steigt, statistisch gesehen. Aber sind es nicht eher die Eltern, die mit der Erziehung überfordert sind? Die sollte man lieber an die Leine nehmen als missverstandene Kinder.