Kassen-Abzocker sind wohlauf

GESUNDHEIT Mediziner, Kliniken und Apotheker betrügen Krankenkassen jedes Jahr um Milliardensummen, kritisieren Experten. SPD will Ärzte-Bestechung strafbar machen

„Es gibt nichts, was man sich nicht vorstellen kann“

KKH-ERMITTLERIN DINA MICHELS

AUS BERLIN HEIKE HAARHOFF

Korruption, Abrechnungsbetrug und Falschabrechnung: Der gesetzlichen Krankenversicherung gehen aufgrund ärztlichen Fehlverhaltens jedes Jahr erhebliche Summen an Versichertengeldern verloren. „Es gibt nichts, was man sich nicht vorstellen kann“, empörte sich am Dienstag in Berlin Dina Michels, die bei der Krankenkasse KKH Allianz die Prüfgruppe Abrechnungsmanipulation leitet. Mal würden Leistungen von Ärzten abgerechnet, die nie erbracht worden seien. Krankenhäuser zahlten Fangprämien an Ärzte für Patienteneinweisungen. Apotheker wiederum neigten zu Schmiergeldzahlungen, wenn Ärzte ihre Patienten und deren Rezepte gezielt an eine Apotheke weiterleiteten.

Wie hoch der Vermögensschaden genau sei, könne nur geschätzt werden: Nach Angaben des European Healthcare Fraud and Corruption Network betragen die Verluste europaweit zwischen 3 und 10 Prozent der jeweiligen Gesundheitsausgaben. Auf Deutschland heruntergerechnet wäre das allein bei den gesetzlichen Krankenkassen ein Verlust zwischen 5 und 18 Milliarden Euro pro Jahr. Zusammen mit Marcus Röske von der Zentralstelle für Korruptionsstrafsachen bei der Staatsanwaltschaft Verden und dem Kriminalhauptkommissar Jörg Engelhard vom LKA Berlin forderte Michels deswegen bessere Sanktionsmöglichkeiten sowie einen Ausbau der Stellen zur Ahndung von Fehlverhalten bei den Krankenkassen. „Ohne sie ist eine strafrechtliche Verfolgung nicht möglich“, urteilte der LKA-Experte Engelhard. Das Gesundheitssystem sei komplex. Nur wo gezielt gesucht werde, könnten die Ermittler auch tätig werden. Doch selbst bei offensichtlichem Fehlverhalten herrsche bei den zuständigen Gerichten häufig „Rechtsunsicherheit und Beißhemmung“, kritisierte Engelhard. Ein Grund: Die Frage, ob Ärzte wegen Bestechlichkeit und Bestechung überhaupt bestraft werden dürfen, ist höchstrichterlich bislang vom Bundesgerichtshof (BGH) noch nicht geklärt.

Die SPD-Bundestagsfraktion will diese Rechtslücke unabhängig vom BGH gesetzlich schließen. In einem Antikorruptionsantrag, der am Freitag im Bundestag debattiert wird, fordert die SPD ergänzende Strafgesetzregelungen, um ärztliche Korruptionshandlungen als Straftatbestände ahnden und Falschabrechnungen von Krankenhäusern sanktionieren zu können.

Denn noch größer als der finanzielle sei der Patientenschaden, insbesondere bei Krebskranken, warnt der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach: Speziell Chemotherapie-Patienten verordneten Pharmaindustrie oder Apotheken aufgrund der extremen Schwankungsbreiten (3.000 bis 80.000 Euro pro Behandlungsepisode beispielsweise bei Darmkrebs) und den damit verbundenen Schmiergeldzahlungen oft das teurere, wissenschaftlich nicht abgesicherte, dafür aber suboptimale Präparat – mit teils lebensgefährlichen Nachteilen. Lauterbach: „Wir gehen davon aus, dass im niedergelassenen Bereich jeder zweite Onkologe geneigt ist, die aus Perspektive des Arztes lukrative Therapie zu verordnen.“