Hongkonger setzen die Freiheit über den Profit

DEMOKRATIE Die wachsende Freiheitsbewegung in der Millionenmetropole hat Signalwirkung für ganz China

PEKING taz | Vier weltweit tätige Unternehmen – PricewaterhouseCoopers, KPMG, Deloitte und Ernst & Young – haben bereits vor Wochen in ganzseitigen Anzeigen vor „Occupy Central“ gewarnt. Die geplanten Proteste im Hongkonger Regierungs- und Bankenviertel könnten „Instabilität und Chaos“ bringen und den Status Hongkongs als internationales Finanzzentrum gefährden.

Früher hätten solche Worte aus der Wirtschaft völlig ausgereicht, um alle Proteste rasch zu beenden. Zu wichtig war den meisten Bürgern der Finanzmetropole, dass die Börsenkurse nicht abstürzen und die Geschäfte weiterlaufen.

Dabei ist Hongkong das einzige Territorium auf dem Boden der Volksrepublik, auf dem die Bürger frei ihre Meinung äußern und sich öffentlich versammeln dürfen. Die Briten hatten ihre ehemalige Kronkolonie erst 1997 an China zurückgegeben und im Zuge der Verhandlungen der chinesischen Führung in Peking diesen Sonderstatus abgerungen. Nach dem Grundsatz „Ein Land, zwei Systeme“ soll dieser Status 50 Jahre lang gelten. Damit gaben sich die meisten Hongkonger lange Zeit zufrieden; sie interessierten sich nicht für Politik.

Seit einiger Zeit hat sich das politische Klima in der Stadt aber gewaltig verändert. Bereits zur Mahnwache am 4. Juni in Gedenken an die Opfer der Niederschlagung der Demokratiebewegung auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking vor 25 Jahren kamen mit fast einer halben Million Menschen so viele Menschen wie noch nie zusammen. Im Juni beteiligten sich fast 800.000 Hongkonger an einem Referendum für mehr Demokratie. Und auch der Studentenstreik an den meisten Hochschulen in der vergangenen Woche übertraf sämtliche Erwartungen.

Der Hongkonger Politologe Willy Lam glaubt, die derzeitige Protestwelle treibe auch deswegen so viele Menschen auf die Straße, weil sie eine Signalwirkung für ganz China habe. Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping setze noch stärker auf die Kontrolle der Kommunistischen Partei. Xi wolle verhindern, dass westliche Werte wie Demokratie in China Fuß fassen könnten, so Lam. „Der Umgang mit Hongkong zeigt, wohin die Reise unter Xi für die gesamte Volksrepublik geht“, sagt Lam.

Selbst Hongkongs als wirtschaftsfreundlich bekannte Juristenvereinigung hat zu den Protesten aufgerufen. Die Juristen empörte, dass die Pekinger Führung in einem im Sommer bekannt gewordenen „Weißbuch“ die Hongkonger Richter nur noch als „Verwaltungsbeamte“ beschrieb, von denen „Vaterlandsliebe“ verlangt werde. Die Juristen sehen in diesem Passus die bislang garantierte Unabhängigkeit der Justiz gefährdet. Denn sie haben erkannt: Ohne Rechtssicherheit ist auch die wirtschaftliche Stabilität Hongkongs gefährdet. FELIX LEE