Die Türkei schwenkt um

GRENZE Möglicherweise werden türkische Truppen noch diese Woche zum Einmarsch in Syrien ermächtigt. Präsident Erdogan fordert Flugverbotszone über Syrien für Assad-Regime

Kurden-Sprecher bestreiten, dass in den letzten Tagen 160.000 Flüchtlinge aus der Region Kobane in die Türkei gekommen sind. Das seien politische Zahlen

AUS ISTANBUL JÜRGEN GOTTSCHLICH

In der Türkei bahnt sich eine dramatische politische Wende an. Entgegen der bisherigen Zurückhaltung bei der Bekämpfung des sogenannten Islamischen Staat (IS) sprach Präsident Recep Tayyip Erdogan nach seiner Rückkehr von der UN-Vollversammlung in New York offen über einen möglichen Einmarsch türkischer Truppen nach Syrien.

„Ohne Bodentruppen geht es nicht“, sagte Erdogan auf dem Rückflug von New York nach Istanbul gegenüber ihn begleitenden Journalisten. „Die Türkei ist das vom Terror an meisten betroffene Land. In nur einer Woche sind 160.000 Flüchtlinge aus Syrien über die Grenze in die Türkei gekommen. Wir müssen eine Perspektive schaffen, dass diese Leute in ihre Heimat zurückkehren können.“ Schon in dieser Woche soll das Parlament über einen Einmarsch diskutieren und wahrscheinlich am Donnerstag die Armee zu grenzüberschreitenden Interventionen ermächtigen.

Erdogan will zunächst einmal mit Bodentruppen eine sogenannte Puffer- oder Sicherheitszone entlang der Grenze auf syrischer Seite errichten lassen. Auf die Frage, wie tief nach Syrien hinein diese Sicherheitszone reichen könnte, wollte Erdogan sich in einem Interview mit Hürriyet nicht genau festlegen, ließ aber durchblicken, dass ein Streifen von 50 Kilometer Tiefe wohl notwendig sei. In diesem Streifen könnten dann neue Städte für die Flüchtlinge aufgebaut werden. Diese Wende Erdogans kam nach einem längeren Gespräch mit US-Vizepräsident Joseph Biden in der Nacht von Donnerstag auf Freitag, in das sich nach Angaben des türkischen Präsidialamts zeitweilig auch Präsident Barak Obama telefonisch einschaltete.

Neben massiver Luftunterstützung bei der Einrichtung einer solchen Sicherheitszone machte Erdogan auch deutlich, dass er darüber hinaus eine Flugverbotszone über ganz Syrien für Flugzeuge und Hubschrauber des Assad-Regimes fordert, damit die syrischen Oppositionellen, die die US-Regierung nun gegen IS ausrüsten und bewaffnen will (siehe Text rechts), auch wirkungsvoll gegen Assad kämpfen können. Das Gebiet auf der syrischen Seite der 900 Kilometer langen Grenze, das Erdogan nun von der türkischen Armee besetzen lassen will, wird im Moment überwiegend von IS oder syrischen Kurden, die eng mit der kurdischen PKK aus der Türkei liiert sind, dominiert. Vor einem Einmarsch müsste die türkische Regierung deshalb eine Einigung mit den Kurden erzielen – will sie nicht Gefahr laufen, sowohl mit IS als auch den Kurden aneinanderzugeraten.

Danach sieht es aber noch gar nicht aus. Immer wieder kommt es an der Grenze gegenüber der syrischen Grenzstadt Kobane zu Auseinandersetzungen zwischen der türkischen Armee und kurdischen Kämpfern der PKK, die von der türkischen Seite aus nach Kobane hineinwollen, um ihren Kameraden zu helfen, und von der Armee daran gehindert werden. Als Antwort darauf griff die PKK eine Polizeistation in Bitlis an und tötete drei Polizisten.

Strittig ist außerdem die Anzahl der Flüchtlinge. Sprecher der Kurden bestreiten, dass in den letzten Tagen 160.000 Flüchtlinge aus der Region Kobane in die Türkei gekommen sind. Das seien politische Zahlen, die anzeigen sollen, dass es auf syrischer Seite praktisch kaum noch Kurden gebe und die türkische Armee deshalb einmarschieren könnte.

Luftangriffe bei Kobane

Für die verzweifelt kämpfenden kurdischen DYP- und PKK-Milizen in Kobane gibt es seit dem Wochenende endlich einen Hoffnungsschimmer: Die US-Luftwaffe hat begonnen, IS-Stellungen um Kobane herum anzugreifen. „Nur mit massiven US-Luftangriffen haben wir eine Chance, Kobane zu halten“, sagte ein kurdischer Sprecher am Samstag.

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