Mmmaaaaaahaaaaa! I wanna fly away!

Mein Nachbar will zu „Deutschland sucht den Superstar“. Zum Glück ist ihm nichts Schlimmeres zugestoßen

Seltsam, ich habe sie doch heute Morgen gegossen, habe ich mir gedacht. Aber die kleinen Pflanzen auf dem Balkon, hübsch anzusehen und während der letzten Frostnächte sorgsam ins Wohnzimmer evakuiert, ließen traurig ihre Blätter hängen. Warum? Schädlinge? Dafür war es eigentlich zu früh. Übergroße Hitze? Davon konnte man leider noch nicht sprechen. Ich setzte mich an den kleinen Tisch auf dem Balkon und begann, Kartoffeln fürs Abendessen zu schälen. Dabei betrachtete ich die Pflänzchen. Was ist nur mit euch los?

Da hörte ich es. Ein langgezogenes Wimmern, ein Wehklagen, ein Mensch in tiefem Schmerz. Oder war es ein Tier? Nein, es war ein Mensch. Das Geräusch kam vom Nachbarbalkon. „Mmmmmmmmmaaaaah! Mmmmmmmmahaaaaa!“ Um Gottes willen! Was ist denn passiert? Ein Mordversuch in der Nachbarwohnung? Mein neuer Nachbar, kaum eingezogen, jetzt schon im Todeskampf auf dem Balkon? „Mmmmmmmmmmaaaaaah! I wanna fly! I wanna fly away!“ Nein, der Mann lag nicht im Sterben. Der Mann sang. Beziehungsweise: Er tat das, was er unter Singen verstand. Offenbar benutzte er einen Kopfhörer und stieß seine Laute passend zu einer Melodie aus, die er über diesen Kopfhörer hörte. Möglicherweise klang das für ihn selbst ganz gut. Er konnte sich ja nicht hören. „Mmmmmmmmaaaaaah! Don’t wanna say good-bye!“

Eindeutig: Diese Geräusche waren die Ursache für den traurigen Zustand meiner Pflanzen. Es war unerträglich. Ich packte die Kartoffeln ein und schloss die Balkontür. Irgendwann würde er schon wieder aufhören.

Irrtum. Selbst durch die geschlossene Balkontür drang das Wimmern meines Nachbarn hindurch. Ich wechselte ins Wohnzimmer. Das konnte eigentlich nicht sein – aber ich hörte ihn immer noch. Stoisch schälte ich weiter meine Kartoffeln. Dann war plötzlich Ruhe. Zum Glück. Er hatte aufgehört. Also: Kartoffeln wieder eingepackt, raus auf den Balkon.

Da ging es wieder los. Aber diesmal war es anders: Zu dem schrecklichen Wimmern hatte sich nun eine akustische Gitarre gesellt. Und das Wimmern war nicht mehr live, es kam vom Tonband. Mein Nachbar hatte sich selbst aufgenommen und hörte nun seinen künftigen Tophit ab: „Mmmmmmmmaaaaahaaa! Don’t wanna say good-bye! Mmmmmmmmm! Klampf, klampf! Mmmmmmmmaaaaaaah!“ Und so weiter. Die Pflanzen zitterten erbärmlich. Eine warf bereits die ersten Blätter ab.

So war das also. Mein Nachbar hielt sich nicht nur für einen Sänger, er war auch noch der Ansicht, dass sein Gesang konserviert werden müsse. Demnächst würde er sich wohl bei „Deutschland sucht den Superstar“ bewerben. Und vorher noch mehr üben. Jeden Tag. Auf dem Balkon. Die Pflanzen würden sterben. Und mein Balkon wäre unbrauchbar, den ganzen Sommer über. Es musste etwas geschehen. Sofort.

„Mmmmmmmmaaaaaaaah!“ Jetzt ging es wieder los. Er sang die zweite Strophe ein. „Don’t wanna die! Uaaaaah!“ Also gut. Der Mann wollte zu DSDS. Konnte er haben. Jetzt gleich. Der wollte Bohlen, der sollte seinen Bohlen bekommen. Ich murmelte, zuerst nur halblaut: „Bei mir kommen solche Geräusche aus anderen Öffnungen.“ Keine Wirkung. Er wimmerte weiter. Dann eben lauter: „Du hast deinen ganz eigenen Stil – aber den finde ich absolut Scheiße.“ Keine Reaktion. Das Wimmern wurde lauter. Ich auch: „Wenn du deine Stimmbänder in die Mülltone schmeißt, ist das artgerechte Haltung.“ Er hörte mich wohl nicht – hatte seine Kopfhörer auf. Dann eben noch lauter: „Du singst, als wenn du ’ne Klobürste im Arsch hättest.“

Da meldete sich die Nachbarin vom Balkon unter mir: „Was reden Sie denn da?“ „Das sagt man heute so. Das habe ich im Fernsehen gelernt.“ Der Nachbar sang weiter. Die Nachbarin zeterte. Jetzt half nur noch eins: Gnadenlos zurücksingen: „Uaaaaaaaaaah! You can’t sing! Yes, you! Uaaaaaaaaaah!“

Schlagartig war Ruhe. Hmm. Vielleicht sollte ich Sänger werden.

STEFAN KUZMANY über GONZO

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