Ein richtig guter Marxist

Ein unerschütterlicher Optimist und ein unangepasster Denker. Der Lebensweg des vor 100 Jahren geborenen Leo Kofler begann in Galizien und endete in Köln. Bochumer Studierende sorgten dafür, dass der Marxist seinen Lehrauftrag erhielt

VON ANDREAS ZOLPER*

Er war einer der originellsten marxistischen Denker der Bundesrepublik. Und saß zwischen allen Stühlen. An Vertretern der Frankfurter Schule ließ er oft kein gutes Haar. Den Sozialismus östlicher Prägung verwarf er genauso wie den Anpassungskurs von Sozialdemokratie und Gewerkschaften. Und mit der bürgerlichen Gesellschaft wollte er sowieso seinen Frieden nicht machen. Heute, am 26. April 2007, wäre Leo Kofler 100 Jahre alt geworden.

Im „roten Wien“

Erste Station seines Lebens ist das österreichisch-ungarische Ostgalizien, wo Kofler 1907 geboren wird. Zu Beginn des Ersten Weltkriegs flieht er mit Mutter und Schwester – der Vater befindet sich als Soldat an der Front – vor den Kampfhandlungen nach Wien. Nach Volks- und Handelsschule arbeitet er als Bürokraft und lernt die Gewerkschaftsbewegung kennen. Das sozialdemokratisch regierte „rote Wien“ ist Europas Hochburg der Arbeiterbewegung. In der Sozial- und Bildungspolitik, im kommunalen Wohnungsbau werden hier ganz neue Wege beschritten. Ein Gewerkschaftsaktivist entdeckt Koflers Begabung als Redner und fördert seinen Eintritt in die Wiener Bildungszentrale.

Koflers Leidenschaft gilt fortan der marxistischen Theorie. Sein Lehrer wird Max Adler, der geistige Führer des linken Flügels in der Sozialdemokratischen Partei Österreichs. Kofler studiert seine Schriften, besucht seine Vorlesungen und arbeitet in dessen „Marxistische Studienkreis“ mit.

Exil in der Schweiz

1938, beim so genannten „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich, emigriert Kofler in die Schweiz – als Marxist jüdischer Abstammung ist er besonders gefährdet. Nach einigen Zwischenstationen wird er schließlich in Basel interniert. Doch seine in Wien begonnenen wissenschaftlichen Studien darf er an der Baseler Universitätsbibliothek fortsetzen.

In einer kommunistischen Buchhandlung stößt der Exilant dann zufällig auf die Schriften von Georg Lukács. Kofler sprach später vom „Bann der Lukács–schen Dialektik und ihrer Anwendung“ und er beginnt zu schreiben. 1944 erscheint „Die Wissenschaft von der Gesellschaft“ unter dem Pseudonym Stanislaw Warynski, 1948 veröffentlicht er „Zur Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft“.

Kofler setzt sich mit der Frage auseinander, wie es zur Preisgabe des freiheitlichen und humanistischen Erbes des Bürgertums durch das Bürgertum selbst kommen konnte und mit welchem methodischen Instrumentarium diese Entwicklung gedanklich zu fassen sei. Für Kofler ist das nur durch eine Rückbesinnung auf den historischen Materialismus von Marx und dessen Weiterentwicklung möglich.

Gegen alle Denktraditionen, die den Gang der Geschichte gleichsam mechanisch von der ökonomischen Basis bestimmt sehen, gelte es, argumentiert Kofler, die Rolle des Bewusstseins im gesellschaftlichen Sein wieder zu betonen: Es gibt keinen vorherbestimmten Gang der Geschichte, sie ist immer das Produkt menschlichen Handelns. Doch seine frische Sicht auf den Marxismus sollte Kofler wenig später große Schwierigkeiten bereiten.

In der DDR: Der Traum erfüllte sich nicht

Nach Kriegsende übersiedelt Kofler in die Sowjetische Besatzungszone, nach Halle. Für den Aufbau des Bildungswesens werden unbelastete Lehrer und Hochschullehrer gesucht und die gerade entstehende DDR wird für den Österreicher zur neuen Heimat: „Ich dachte: Hier hast du endlich Sozialismus! Mein Traum schien erfüllt.“ Koflers beruflicher Aufstieg ist erstaunlich: Sein „Warynski“ wird als Dissertation angenommen, mit seiner „Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft“ habilitiert sich Kofler, der niemals ein ordentliches Studium absolvierte. An der Universität zu Halle wird er Professor und Leiter des „Instituts für historischen Materialismus“.

Doch bald gerät er mit den weltanschaulichen Gralshütern der SED in Konflikt. Sie stoßen sich an seinem undogmatischen Marxismus und der kritischen Haltung gegenüber der Partei- und Staatsbürokratie. Anstatt, so Kofler, die Menschen vom Sozialismus zu überzeugen, traktiere man sie mit hohlen Phrasen. Dabei versteht er seine Einwände gegen die SED immer als konstruktive Kritik: „Ich habe fest zur Partei gestanden, ich war immer ein guter Marxist.“ 1950 erreicht die Kampagne gegen Kofler ihren Höhepunkt: Er wird öffentlich als „ideologischer Schädling“ und „Feind der Sowjetunion“ diffamiert. Ende des Jahres flieht er in den Westen.

Der „spielende Mensch“

Hier versucht man, Kofler für den ideologischen Kampf gegen den Osten und den Sozialismus zu gewinnen. Doch Kofler, soeben nur knapp seiner Verhaftung in der DDR entgangen, widersteht: „Sie dürfen nicht vergessen, dass ich Marxist bin.“ So ist die universitäre Karriere in der damaligen Bundesrepublik nur schwer möglich. Dennoch entfaltet er eine rege publizistische Tätigkeit. In seinen Schriften verarbeitet er seine Erfahrungen mit dem Stalinismus, den er als Unterdrückungssystem beschreibt, in dem Marxismus zur Herrschaftsideologie verkommen sei. Doch auch am Kurs von SPD und Gewerkschaften, die von jeder marxistischen Gesellschaftstheorie Abschied genommen und sich in den bürgerlichen Staat integriert hätten, übt er scharfe Kritik. Die These von der „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ der Bundesrepublik lehnt er ab. In seinen Augen ist diese spätbürgerliche Gesellschaft nach wie vor eine Klassengesellschaft, die sich zwar tolerant gibt und scheinbare Freiheiten gewährt, tatsächlich aber neue, vielfach unbewusste Zwänge aufbaut.

In diesem Punkt trifft sich Kofler mit den Vertretern der Frankfurter Schule, Marcuse und Adorno. Anders als diese betont er jedoch immer die Möglichkeiten der humanistischen Aufklärung und der Schaffung eines kritischen Bewusstseins. Das Ideal ist ihm, in Anlehnung an Marx, der „spielende Mensch“, der sich und seine Kreativität frei von Zwängen entfaltet.

Der Pädagoge und Lehrer

Kofler lässt sich 1951 mit seiner Frau in Köln nieder. Beruflich bleibt seine Situation unsicher. Die Universität ist ihm verschlossen. Er hält sich mit Lehrveranstaltungen an Volkshochschulen und gewerkschaftlichen Bildungseinrichtungen über Wasser und trifft dort auf ein nichtakademisches Publikum. Kofler ist ein außergewöhnlicher Redner, der an die Alltagserfahrungen der Zuhörer anknüpft. Konkrete Beispiele, gespeist aus den Erfahrungen seines wechselvollen Lebens, bereichern seine Vorträge und Seminare ebenso wie das ein oder andere vorgetragene Arbeiterlied. So hatte er es in Wien gelernt.

Seinen unorthodoxen Stil hält Kofler bei, als er 1972 auf Betreiben der Studierenden eine Lehrstuhlvertretung an der Ruhr-Universität Bochum erhält, wo er bis 1991 lehrt. Für den Soziologen Oskar Negt ist mit Leo Kofler „eine Form des unverstümmelten, lebendigen Marxismus verknüpft“. Nach einem Schlaganfall und längerer Krankheit starb er am 29. Juli 1995 in Köln.

*Andreas Zolper ist Historiker. Am 5. Mai ist Koflers 100. Geburtstag Anlass für eine Tagung in Köln mit der schönen Frage „Wann ist der Mensch ein Mensch?“ (www.leo-kofler.de).