Kein Ende der Geschichte

WENDE Philipp Ther zieht eine abwägende Zwischenbilanz der Reformen in Ost- und Mitteleuropa

Die neue Ordnung kennzeichnet er als eine neoliberale, ohne die positiven Seiten des Wandels übersehen zu wollen

VON STEFFEN VOGEL

Für die Bewohner der alten Bundesrepublik blieben die Geschehnisse nach 1989 oft Fernsehereignisse. Gezielt vermittelte die Kohl-Regierung die beruhigende Gewissheit, der Westen könne am gewohnten Gang der Dinge festhalten. Als „Containment“ begreift das der Wiener Historiker Philipp Ther. Die Revolutionen sollten eingedämmt werden.

Veränderungen galten als eine Angelegenheit der Osthälfte des Kontinents, der sich viele Westeuropäer ohnehin wenig verbunden fühlten. Doch berührten die massiven Umwälzungen nicht nur die ehemals realsozialistischen Gesellschaften, sondern strahlten auf ganz Europa aus, wie Ther in seinem neuen Buch zeigt.

Die titelgebende „neue Ordnung auf dem alten Kontinent“ kennzeichnet er als eine neoliberale, ohne die positiven Seiten des Wandels übersehen zu wollen. Daher ist seine Darstellung einerseits frei vom Pathos des viel beschworenen Endes der Geschichte, andererseits distanziert Ther sich explizit von einer angeblich „modisch“ gewordenen „Fundamentalkritik am Neoliberalismus“.

Seine Zwischenbilanz der Jahre seit 1989 fällt unaufgeregt aus und ist auf eine abwägende Argumentation bedacht. Ther wirft einen von Sympathie geprägten Blick auf Ost- und Mitteleuropa. Kenntnisreich vermittelt er Einblicke in die dortigen Diskurse und Lebensverhältnisse, die er aus eigener Anschauung kennt.

Den Siegeszug des Neoliberalismus im Osteuropa der frühen Neunziger begreift Ther als Ergebnis älterer Trends: Die Versuche, die realsozialistische Ökonomie von innen graduell zu verändern, waren gescheitert. Die Entwürfe der Opposition für einen Dritten Weg erschienen angesichts der schlechten Ausgangslage und des hohen Kapitalbedarfs undurchführbar. Gleichzeitig befanden sich im Westen der Keynesianismus längst auf dem Rückzug und die reformorientierte Linke auch intellektuell in der Defensive. So griffen Politiker wie Václav Klaus oder Leszek Balcerowicz, der Polen später die Schocktherapie verordnete, frühzeitig neoliberale Vorstellungen auf.

Ein „Defizit an Demokratie“ begrenzte in den ersten Jahren den Einfluss der Bevölkerung auf diesen wirtschaftspolitischen Kurs. Der glückte entgegen der reinen Lehre dort, wo er von einem starken Staat gestützt wurde. Als wichtig erwies sich zudem die Eigeninitiative einer gut ausgebildeten Bevölkerung.

Ther benennt Erfolge – deutliche Wachstumsraten und das Erblühen der Hauptstädte –, ohne die Härten zu vergessen: Ländliche Regionen blieben weit zurück, Minderheiten wurden an den Rand gedrängt, Frauen verloren Jobs und soziale Rechte. Jenseits dieser allgemeinen Charakteristiken bestehen markante Unterschiede in der Entwicklung der einzelnen Länder, die Ther klar herausarbeitet.

Doch der Neoliberalismus machte nicht an den ehemaligen Blockgrenzen halt. Gerade benachbarte Länder gerieten unter Druck. So kann die Verabschiedung der Agenda-Reformen pünktlich zur EU-Osterweiterung 2004 als Hinweis auf eine „Kotransformation“ der alten Bundesrepublik verstanden werden. Und es ist vielleicht mehr als nur Zufall, dass der ursprüngliche Regelsatz bei Hartz IV seinerzeit in etwa dem durchschnittlichen Monatslohn in Tschechien und Polen entsprach.

Aber auch die gegenwärtige deutsche Dominanz in Europa ist ohne den vorherigen Wandel in der Nachbarschaft nicht zu erklären. Der Osten wurde zur „verlängerten Werkbank der deutschen Industrie“, wie Ther schreibt, die dort günstig produzieren lässt und einen Konkurrenzvorteil erzielt. Zugleich hängt der kriselnde Süden durch die gemeinsame Währung an der Berliner Wirtschaftspolitik.

Ther berücksichtigt auch die Krise in der EU seit 2008 und vermittelt dabei interessante Details, etwa dass der gegenwärtige Einbruch der griechischen Wirtschaft deutlich heftiger ausfällt als jener der Länder Ost- und Mitteleuropas in den Jahren nach der Wende. Jedoch gehören gerade die Passagen über Südeuropa zu den schwächeren des Buches. Ther spricht beispielsweise fälschlich von einem „Schuldenproblem“ dieser Länder, statt die vorangegangenen Kreditflüsse Richtung Süden als Ausdruck der „vertagten Krise“ des Kapitalismus (Wolfgang Streeck) zu diagnostizieren. Auch seine Kritik der Troika-Programme fällt halbherzig aus. Da ist es nur folgerichtig, dass Italiens Premier Matteo Renzi bei Ther erst als Schröder-Erbe beschrieben wird und im gleichen Atemzug als Hoffnungsträger durchgeht, unter anderem weil er nicht ganz so streng sparen will.

Philipp Ther: „Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent. Eine Geschichte des neoliberalen Europa“. Suhrkamp, Berlin 2014, 432 S., 26,95 Euro