Und nicht vergessen …

Die Avocados haben es richtig gemacht. Haben einfach vergessen, dass ihre Zeit längst abgelaufen ist. Sind einfach nicht ausgestorben, damals, vor 30.000 Jahren. Nachdem alle großen Säugetiere in Südamerika verschwunden waren, die die gigantischen Kerne der Avocados mit runterschlucken, weiterschleppen und in irgendeiner Jauchegrube wieder aussäen konnten. Fortpflanzen war also eigentlich nicht mehr. Und die Avocados? Tun einfach so, als hätten sie das Memo nicht bekommen. Clevere kleine grüne Biester.

Hätte es das Internet nie gegeben, dann könnten wir das wahrscheinlich auch – so fröhlich ignorant vor uns hinvergessen. Dann hätte man vielleicht längst verdrängt, dass Schäuble mal in eine CDU-Schwarzgeldaffäre verwickelt war oder wie Uschi Glas nackt aussieht. Doch nun gibt es das Internet halt. Mit Erinnerungswolken und gigabyteweise Speicherplatz. Und mit dem vergessen und aussitzen wird es nichts mehr.

Nicht mal, wenn man Journalist bei der Bild-Zeitung ist. Normalerweise würde sich keiner merken, dass man da vielleicht im Jahr 2004 oder 2009 bei der einen oder anderen Recherche nicht ganz so ethisch sauber vorgegangen ist, wie man das an der Journalistenschule lernt. Wozu auch – da wachsen ja fast wöchentlich neue Schweinereien nach. Aber im Netz gibt es eben dieses Bildblog, das die Arbeit deutscher Medien im allgemeinen und des Springer-Boulevards im Speziellen kritisch hinterfragt. Und genau an diese nicht ganz so sauberen Recherchen erinnert.

Und so ergab sich diese Woche die hübsche Geschichte, dass ausgerechnet der Medienkonzern, der jahrelang herumheulte, dass Google sein Geschäftsmodell kaputtmache und bitteschön dafür zu zahlen habe, dass er Wortkombinationen aus Springer-Texten nutzt, um Leser zu Springer-Texten zu führen, einen Journalisten beschäftigt, der Google wiederum um Hilfe bittet, um seinen digitalen Ruf aufzupolieren. Eben jener Journalist stellte nämlich bei Google einen Antrag, eben jene unangenehmen Bildblog-Texte aus der Trefferliste zu entfernen, die erscheinen, wenn man seinen Namen googelt. „Recht auf Vergessenwerden“, Datenschutz.

Man kann dazu allerlei oberschlaue Kalendersprüche zitieren. Zum Beispiel den des tschechischen Autoren Milan Kundera, dass der Kampf gegen die Macht der Kampf des Gedächtnisses gegen das Vergessen ist.

Menschlich ist es irgendwie verständlich, dass einen die ewige Auffindbarkeit vergangener Fehltritte im Netz ärgert. Sind wir doch dank Facebook längst daran gewöhnt, uns online ein Bild von dem Menschen zu zeichnen, der wir gerne wären. Befreit von dem, der wir leider eben auch sind. 12.000 Menschen aus Deutschland wollen, dass Google irgendetwas über sie vergisst. Aber eine Google-Trefferliste ist eben kein Facebook-Profil. Und ein Journalist, der für seine Arbeit kritisiert wird, ist keine Privatperson. Sondern jemand, dessen Beruf es ist, Zugang zu Informationen freizubuddeln und nicht zuzuschütten.

Den Gegenentwurf zu dem BamS-Journalisten lebt der Berliner Politiker Christopher Lauer: Schön krawallig twitterte er am Donnerstag den Link zur Boulevardzeitung BZ, die seinen Austritt aus der Piratenpartei meldete. Generell wirkt Lauers digitales Leben als brillanter Redner, leidenschaftlich Beleidigter und Troll wie aus dem Handbuch der Post-Privacy-Bewegung: Je vielschichtiger die Informationen, die man digital aussät, desto schneller wird der einzelne Fehlschlag überdeckt. Mit seinem ewigen Tamtam hat Lauer den Machtkampf des Gedächtnisses gegen das Vergessen jedenfalls längst gewonnen. Mal sehen, ob das auch seiner Ex-Partei gelingt – die ist ja derzeit so abgetaucht, dass sie eher auf die Überlebensstrategie der Avocados zu setzen scheint.

Nur Stunden vor seinem Austritt performte Lauer übrigens vor dem Berliner Abgeordnetenhaus eine seiner hübschen Provokationen: Warum man vor einem Apple-Laden am Ku’damm zelten dürfe, als Flüchtling am Brandenburger Tor aber nicht. Stimmt eigentlich: Wenn Flüchtlinge nicht mal mehr in Berliner Kirchen willkommen sind, warum nicht einfach das Zeltlager ganz legal vorm H&M (neue Herbstkollektion) oder Aldi (neue Laptops) aufschlagen? Eine Delegation von Roma könnte vor der Grünen-Zentrale kampieren – natürlich nur, weil sie die ersten sein wollen, die die gebundene Ausgabe des neuen Parteiprogramms in den Händen halten wollen. Oder man verbietet anders herum Apple-Jüngern beim Warten aufs nächste iPhone auch mal das Hinsetzen oder das Auspacken von Schlafsäcken. So wie damals den Flüchtlingen vorm Brandenburger Tor. Das würde bestimmt jemand filmen und im Netz hochladen: Pictures, or it didn’t happen. Bis einer sperrt.

MEIKE LAAFF