berliner szenen Clevere Katzen

Hundert Prozent sicher

Ingo ist einer, der gerne allein ist. Seine Hobbys sind Musik hören und sich ein paar Sandwiches machen. Eine Möglichkeit, nicht allein zu sein, wäre zu versuchen, eine Familie zu gründen. Aber in einer Familie möchte jeder andere auch Musik hören und jeder andere auch Sandwiches essen. Da sind Konflikte vorprogrammiert. Ganz und gar für sich zu sein, ohne Schmatzen am anderen Ende des Tischs – das ist es, was Ingo will. Draußen ist er nur noch selten. Er meidet Chaos und Lärm. Er sitzt zu Hause auf seinem Sofa und genießt es, tagelang vor sich hin zu schweigen.

Auf 30 Quadratmetern Plattenbau wohnt er, in einer Stadt, mit deren Namen er nichts mehr verbindet. Ein Eigenbrötler. Einer von vielen in einer Stadt wie dieser. Sie sind jämmerlich allein und haben kein Schmatzen am anderen Ende des Tischs. Deswegen haben sie wenigstens eine Katze. Ingo hat keine.

Stattdessen hört Ingo gern Musik. Und dabei liegt er da wie tot und stellt sich vor, er wäre Maulwurf Grabowski beim Mittagsschlaf. Das Ganze geht dann ein paar Stunden, ohne dass ihn etwas aus der Ruhe bringen könnte. Manchmal nickt er kurz ein. Im Traum buddelt er sich ganz dicht an Vaters Grab vorbei. Meist besucht er dabei gleich noch den Rest seiner Verwandtschaft, Onkels, Tanten, Cousins, Nichten. Alle hatten sie erst eine Familie, früher, als die Welt eine andere war. Irgendwann war dann der eine Teil seiner Verwandtschaft tot, und der andere hatte Katzen. Sie hatten Katzen anstelle von Familien. Aber Katzen, glaubt Ingo, wollen nicht von Natur aus nett sein zu Menschen. Katzen sind einfach ziemlich clever und nutzen die Einsamkeit der Menschen aus, um etwas zu fressen zu bekommen. Da ist sich Ingo sicher. Hundert Prozent.JOCHEN WEEBER