Zurück in die Kindheit

Demenzkranke werden im Alter wieder zum Kind und erinnern sich nur noch an lang zurückliegende Ereignisse. Eine Herausforderung für Angehörige und Betreuer. Ein Besuch in einer Dementengruppe

VON ELKE SPANNER

Der Buchhalter ist in Wolfgang Homann* noch heute zu erkennen. Mit dem Wortspiel vor sich kann er gar nichts anfangen. Da geht es irgendwie um eine Wurst, das interessiert ihn nicht. Es ist nicht einmal deutlich, ob er von dem Spiel und dem Gespräch darüber etwas mitbekommt. Der alte Herr blickt mit leerem Blick in die Runde und beantwortet alle Fragen einheitlich mit „jaja“. Bis eine der Betreuerinnen plötzlich fragt, welche Summe drei mal zwei ergibt. „Sechs“ kommt es wie aus der Pistole geschossen zurück. Es ist seine erste Aussage an diesem Tag, die sich auf den vorausgegangenen Satz bezieht.

Menschen, die unter Demenz leiden, werden im Alter wieder zum Kind. Sie können oft nur noch die einfachsten Dinge – und ein Gespräch zu führen, gehört zumeist nicht mehr dazu. Erinnern können sich Demenzkranke am besten an das, was sie als Kind erlebten. Daran knüpft die Demenzarbeit an. Jutta Jahrestorfer, eine ehrenamtliche Helferin der Dementengruppe des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) in Hamburg, hat kürzlich eine altmodische Kaffeemühle mitgebracht, die sie auf einem Flohmarkt gefunden hatte – und wie sie in der Generation, aus der die Gäste stammen, im Haushalt benutzt wurde. Über solche Gegenstände, sagt sie, würde eher ein Gespräch entstehen als über das, was die Kranken als Erwachsene erlebten.

Nach dem gemeinsamen Frühstück liest Gruppenleiterin Elfriede Neumann Gedichte vor. „Früher wurden in der Schule viele Gedichte auswendig gelernt“, erklärt sie. „Manche können den Text jetzt noch mitsprechen, wenn ich vorlese“. Auch, wenn sie sonst kaum mehr an einem normalen Gespräche teilnehmen können, sind altbekannte Sprichworte, Gedichte oder auch Lieder noch abrufbar. Die Erzählungen der 87-jährigen Elsa Schäfer* zum Beispiel sind für Außenstehende kaum verständlich. Die Vogelhochzeit aber singt sie mit. Und zwar richtig – Strophe um Strophe.

Einmal die Woche trifft sich die Gruppe. Die drei Stunden sind für die meisten die einzigen in der Woche, in denen sie das Haus verlassen – und die einzigen, die ihre Betreuer, durchweg Angehörige, einmal für sich und ihre Erledigungen haben. Die Zeit ist wertvoll, für alle. Anstrengend ist sie auch. Die Rotkreuz-Helferinnen versuchen, mit unterschiedlichen Spielen alle Sinne der Dementen anzusprechen, und Kranke wie Betreuerinnen sind nach der gemeinsamen Zeit zufrieden, aber auch erschöpft.

Wie viel Wolfgang Koch von seinen Erlebnissen dort mitbekommt, weiß man nicht. Nach zwei Schlaganfällen und der Demenzerkrankung ist der 71-Jährige zum Sprechen kaum mehr in der Lage. Koch kann auch nicht allein aus dem Rollstuhl aufstehen oder laufen. Und doch schafft es Neumann, ihn zum Sport zu bewegen. Sie wirft ihm einen roten Ball zu. Koch fängt ihn reflexartig auf und wirft treffsicher zurück. Dann stellt Neumann neun Kegel in den Kreis, den die Kranken mit ihren Betreuerinnen bilden. Alle haben zwei Wurf. Koch wirft sieben Kegel um.

Vom Programm des DRK profitieren nicht nur die Demenzkranken selbst, sondern auch ihre Angehörigen. Ursula Koch pflegt ihren Mann allein zu Hause, rund um die Uhr. Nachts begleitet sie ihn alle drei Stunden auf Toilette. Tagsüber wäscht sie ihn, zieht ihn an, kocht ihm Essen und füttert ihn. Da der 71-Jährige bei allem auf Hilfe angewiesen ist, sitzt seine Frau die ganze Woche über mit ihm in den eigenen vier Wänden fest. Verlassen kann sie die Wohnung nur, wenn der Fahrdienst des DRK ihren Mann zur Dementenbetreuung abgeholt hat. Freizeit ist die Auszeit für sie nicht: In den drei Stunden muss sie alles erledigen, was sich die Woche über angestaut hat: Arztbesuche, Behördengänge, Einkaufen. In den Raum, der in ihrer Wohnung früher einmal das Kinderzimmer war, hat Ursula Koch zwei Kühlschränke gestellt, damit sie Dienstags auf Vorrat einkaufen kann. Ob sie nie erwogen hat, ihn in ein Pflegeheim zu geben? Nein, sagt Ursula Koch. „Ich habe mich schon um meine Eltern, meine Kinder und Enkel gekümmert. Ich schaffe auch das.“

Wolfgang Homann ist durch die Rechenaufgabe richtig aufgewacht. Auf die Frage, ob er in seinem Job „einfache oder doppelte Buchführung“ betrieben hat, fällt ihm umgehend ein: „Doppelte“. Gruppenleiterin Neumann lächelt stolz, als habe sie selbst die richtige Antwort gefunden.* Namen geändert